Das Amulett der Pilgerin - Roman
seinem Gesicht abgezeichnet hatte, aber als er in Vivianas Augen blickte, sah er Mitgefühl. Nicht das Bedauern eines Menschen über das Leid des anderen, sondern das tiefe Verstehen eines Gefühls, das einen innerlich zerfraß. Er fühlte sich ihr plötzlich sehr nahe, es war, als hätten sie einander erkannt. Viviana fragte brüsk: »Es ist spät. Was ist deine dritte Frage?«
»Wie stellst du dir deine Zukunft vor? Zum Beispiel, wenn du dreißig Jahre alt bist?«
»So alt werde ich nicht.«
Sie stand auf und ging zurück zum Haus. Julian blickte ihr nach. Sie hatte keinen Spaß gemacht. Wahrscheinlich war ihre Einschätzung auch richtig. Menschen wie sie lebten gefährlich, es gab keine Freunde, sondern nur Feinde in ihrem Leben. Aber auch Viviana fühlte sich niemandem verpflichtet und würde jeden, ohne mit der Wimper zu zucken, ans Messer liefern, wenn es ihr nützlich war. So leicht, wie sie ihre Auftraggeber an den Kardinal verkauft hatte, würde sie das Gleiche mit ihm tun. Es war irrwitzig, dass er immer versuchte, sich an die Spielregeln zu halten. Sie hatte ihm einen Spiegel vorgehalten, und er hatte einen Narren gesehen. Es gab keine Spielregeln. Julian starrte in sein Bier. Er war deprimiert. Er musste sich zusammennehmen, sagte er sich. Seine Aufgabe war es, den König und das Reich zu schützen, und das war eine ehrenhafte Aufgabe, ganz gleich, welche zynischen Ansichten Viviana hatte. Sie war eine Feindin, und das durfte er nicht vergessen.
• 18 •
D ie nächsten vier Reisetage vergingen ohne besondere Vorkommnisse, und sie erreichten Saint Albans am späten Nachmittag. Viviana hatte immer wieder versucht, Julian in Gespräche zu verwickeln, aber er war ausgewichen. Wenn sie glaubte, dass sie seinen wunden Punkt gefunden hatte und gegen ihn ausspielen könnte, irrte sie sich.
Saint Albans war eine der mächtigsten und einflussreichsten Abteien des Reiches. Es gab eine Reihe von Kirchen, die die Pilger auf das Ziel ihrer Reise, den Schrein des Heiligen Alban, vorbereiteten. Die drei größten lagen an den drei Haupteinfallstraßen. St. Stephen war eine von ihnen, ein stabiles, graues Steingebäude mit einem neueren Anbau. Viviana zügelte ihr Pferd und glitt aus dem Sattel.
»Ich will hier nach Rinaldo fragen.«
Julian verdrehte die Augen. Manchmal kam es ihm so vor, als wenn sie diese Suche nur durchführte, um ihn zu ärgern. Außerdem passte ihre Sorge um Rinaldo nicht in das Bild, das er sich von der neuen Viviana gemacht hatte, und Julians Gefühlsleben war ohnehin schon so schwierig, dass er mögliche gute Seiten an ihr nicht auch noch in Betracht ziehen wollte. Viviana verschwand in der Kirche. Nachdem Julian etwa fünf Minuten gewartet hatte, stieg er vom Pferd. Er band die Tiere an und beschloss, nachzusehen, was so lange dauerte. Es waren eine Handvoll Menschen in der Kirche, der Priester sprach mit einem recht vornehm gekleideten Herrn, der entweder bedeutend war oder sich zumindest dafür hielt. Viviana saß in der Nähe auf einer der hölzernen Bänke und wartete. Julian wollte sich gerade wieder umdrehen und hinausgehen, als sein Blick auf den Mann fiel, der vor ihm an einer der Säulen lehnte und in das Innere der Kirche blickte. Er hatte zunächst den Eindruck gehabt, dass er wie er selbst auf jemanden wartete, aber jetzt bemerkte Julian etwas am Hals des Fremden. Es war ein dünner Streifen, an dem die Haut dunkler war, als wenn ihm das Leder eines Halsbands in die Haut geschnitten hätte, als das Band mit Gewalt abgerissen worden war. Julians Blick glitt erneut durch das Kirchenschiff. Außer einem alten Mütterchen, das am Marienaltar kniete, und einem älteren Pilgerehepaar auf der letzten Bank, waren die Anwesenden Männer. Und bei genauerem Hinsehen sahen sie auch nicht so aus, als wenn sie auf einer Wallfahrt wären. Es waren drei, den Mann, der direkt vor ihm stand, nicht mitgezählt. Man hatte auf sie gewartet, schoss es Julian durch den Kopf. Viviana spielte mit den Bändern ihres Kleides, ihr Blick wanderte langsam durch die Kirche. Sie betrachtete die Schnitzereien des Gestühls, die Malerei an den Wänden, und schließlich schaute sie auch zu ihm, ohne ein Zeichen des Erkennens, und weiter an der gegenüberliegenden Wand entlang. Er hatte überlegt, wie er ihre Aufmerksamkeit erregen könnte, doch jetzt war ihm klar, dass Viviana die Gefahr schon erkannt hatte. Julian drückte sich in den Schatten der geöffneten, schweren Holztür und wartete. Der Priester und
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