Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
Motorrad-Stuntman, wenn man mit einem aggressiven Hund auf der Bühne arbeiten soll. Sie bereiten sich minutiös vor, damit alle Chancen gut für Sie stehen. Sie achten vorher auf viel Schlaf, gute Ernährung und befragen den Hundebesitzer ausführlich. Sie arbeiten mit guten, verlässlichen Leuten, auf die Sie zählen können. Und dann fahren Sie auf die Sprungschanze und hoffen, dass Sie es über die Schlucht schaffen.
Der Mastiff, mit dem ich auf einem Seminar arbeitete, muss über 90 Kilo gewogen haben und hatte einen Kopf in der Größe eines Backofens. Er hatte während der letzten Monate einige Fremde angegriffen und seine Besitzer genauso erschreckt wie deren Freunde. Ständig Leckerchen werfend näherte ich mich ihm immer mehr, während ich dem Publikum erzählte, was ich gerade tat. Aus dem Augenwinkel beobachtete ich ihn und sah, dass er entspannt aussah, normal atmete und auf ein weiteres Leckerchen wartete. Ich richtete meine Aufmerksamkeit auf eine Frage aus dem Publikum, als ich einen Schritt näher heranging und weiter Leckerchen warf. Ich war jetzt nur noch ein paar Fuß entfernt. Donnas Augen warnten mich. Ich hatte auf Donna Duford, eine kluge und erfahrene Profi-Hunde-trainerin, geschaut und an ihrem Gesicht gesehen, dass ich in Schwierigkeiten steckte. Der Mastiff stand direkt neben mir, war aber erschreckend ruhig geworden. Ich schaute vorsichtig in seine Richtung und sah dabei, wenn auch nur für den Bruchteil einer Sekunde, direkt in seine Augen – ein Fehler, und ein dummer noch dazu. Direkter Blickkontakt zu einem nervösen Hund ist ein Anfängerfehler. Entweder man lernt, ihn zu vermeiden, oder man ist raus aus dem Geschäft.
Der Hund explodierte wie eine Dampfmaschine aus Muskeln und Zähnen und stürzte geradewegs auf mein Gesicht zu. Sein knurrendes Bellen ließ das Gebäude erzittern. Ich tat, was jeder hoch trainierte Profi in einer solchen Situation tut. Ich trat den Rückzug an.
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Hätte ich keinen Blickkontakt zu diesem Mastiff aufgebaut, hätten sich meine Augen nur ein paar Millimeter weiter nach rechts oder links bewegt, hätte er mich nicht angegriffen. Diese ganze geballte Kraft hätte ruhig dagesessen und beobachtet, ob ich meine Blickrichtung um einen viertel Zentimeter verschoben hätte. Eine kaum wahrnehmbare Änderung meines Verhaltens hätte den erstaunlichen Unterschied ausgemacht, ob dieser 90-Kilo-Hund ruhig dagesessen oder in Richtung meines Gesichtes losgesprungen wäre.
Diese Geschichte mag ein wenig dramatisch sein, aber die gleichen Auswirkungen subtiler Bewegungen liegen jeder einzelnen Interaktion zwischen Ihnen und Ihrem Hund zugrunde. Hunde sind Meister darin, minutiöse Veränderungen in unseren Körpern wahrzunehmen und sie gehen davon aus, dass jede kleine Bewegung etwas zu bedeuten hat. Kleine Bewegungen Ihrerseits können zu großen Veränderungen im Verhalten Ihres Hundes führen. Wenn Sie irgendetwas aus diesem Buch lernen, dann lernen Sie das. Beispiele dafür gibt es endlos viele. Ob Sie aufrecht und mit geraden anstatt mit hängenden Schultern dastehen, kann den Unterschied ausmachen, ob Ihr Hund sich hinsetzt oder nicht. Ein für Menschen kaum wahrnehmbares Vor- oder Zurückverlagern des Gewichtes ist für einen Hund so deutlich wie eine Leuchtreklame. Änderungen der Richtung, in die Ihr Oberkörper tendiert, sind so wichtig, dass ein Zentimeter vor oder zurück einen verängstigten Streuner entweder zu Ihnen lockt oder von Ihnen wegjagt. Ob Sie tief durchatmen oder die Luft anhalten, kann eine Rauferei zwischen Hunden verhindern oder verursachen. Ich habe dreizehn Jahre lang jede Woche mit aggressiven Hunden gearbeitet, und ich habe immer wieder gesehen, dass winzige Bewegungen manchmal eine schwierige Situation entschärfen können – oder eine solche schaffen.
Als ich einmal eine Tiermedizinstudentin fragte, was sie in den zwei Wochen bei mir gelernt hätte, sagte sie: »Mir war nie bewusst, wie wichtig die Feinheiten meiner Handlungen sind – dass so winzige Bewegungen wie eine Gewichtsverlagerung einen solchen Einfluss auf das Verhalten des Tieres haben können.« Diese Information scheint für keinen von uns besonders naheliegend. Wie seltsam, wenn man sich anschaut, wie wichtig wir winzige Bewegungen innerhalb unserer eigenen Spezies nehmen. Ich fragte bereits eingangs, wie weit Sie eine Augenbraue hochziehen müssen, um den Ausdruck Ihres Gesichtes zu verändern. Gehen Sie und schauen Sie in
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