Das andere Ende der Leine: Was unseren Umgang mit Hunden bestimmt (German Edition)
haben. Ein Fremder nähert sich und geht direkt auf den Hund zu. Mein Kunde bleibt stehen, warnt deutlich, dass der Hund scheu ist und bei Fremden nicht sicher und ersucht, den Hund bitte nicht zu streicheln. Der Fremde sagt etwas in der Art von »Aber warum denn nicht« oder »Oh, aber ich mag Hunde«, beugt sich von Gesicht zu Gesicht zum Hund hinab und streckt die Hand über dessen Kopf. Der Hund weicht entweder ängstlich zurück und lernt dabei ein weiteres Mal, dass Menschen sozial behindert sind, oder er bellt, schnappt oder beißt.
Meine jahrelangen Bemühungen, scheuen Hunden zu mehr Vertrauen in Fremde zu verhelfen, haben mich gelehrt, wie stark unser tief verfestigtes Begrüßungsverhalten wirklich ist. Im Anfangsstadium der Behandlung scheuer Hunde ist entscheidend, dass die Menschen ihre Annäherung schon unterbrechen, lange bevor sich der Hund unwohl zu fühlen beginnt. Aber der Drang, frontal auf einen Hund zuzugehen, die Hand auszustrecken und ihn zu berühren ist so stark, dass er für manche Menschen geradezu überwältigend ist. Es scheint, als könnten wir uns gar nicht zurückhalten. Dieses zwanghafte Bedürfnis, greifend unsere eigenen »Pfoten« auszustrecken, kommt nicht einfach aus dem Nichts: Anfassen und Streicheln hinter dem Kopf ist ein übliches Zeichen der Zuneigung bei vielen Primaten, Schimpansen und Menschen inbegriffen. Der amerikanische Werbeslogan »Reach out and touch someone« – »Streck deine Hand aus und berühre jemand – mit der Doppeldeutung, sich aufzuraffen und jemand emotional zu berühren« erinnert uns daran, wie tief verwurzelt die Aspekte von »Hand ausstrecken« und »Anfassen« in unserem sozialen Verhalten sind.
Ich hatte mit Hunderten von Fällen wie dem von Mitsy zu tun und lernte dabei, dass es egal ist, was ich sage und auch egal, was mein Gesprächspartner sagt: Die Handlung, gerade auf einen Hund zuzugehen und die Hand zur Begrüßung auszustrecken, ist so fest programmiert, dass ich Menschen oft körperlich daran hindern muss, es zu tun. Die einzige Lösung ist, mit zwei Personen zu arbeiten: eine bleibt beim Hund und die andere neben dem Fremden, bereit, sich zwischen Fremden und Hund zu stellen, wenn ersterer nicht der Versuchung einer typischen Primatenbegrüßung widerstehen kann. Ich habe gelernt, einen höflichen »Body Block« anzuwenden, damit die Menschen nicht zu nahe kommen und ich wende ihre schon ausgestreckten Hände vom Hund ab, indem ich ihnen einen Hundekuchen oder Ball zuwerfe. 3 Genauso wie Primaten ihre Hände zur Begrüßung ausstrecken wollen, so können wir Menschen scheinbar nicht widerstehen, Dinge aufzufangen, die sich auf uns zu bewegen. »Würden Sie bitte dem Hund dieses Leckerchen hinwerfen?« frage ich dann und werfe es entschlossen dem netten Menschen zu, der sich gerade auf dem Bürgersteig dem Hund nähert. Die meisten Menschen sind dann so mit Fangen beschäftigt, dass sie damit aufhören, die Hand nach dem Hund ausstrecken zu wollen. Ehrlich, man kann Menschen erziehen – es ist nur viel schwieriger als bei Hunden.
U MARMEN
Die Hand ausstrecken ist die eine Sache, aber Umarmen eine andere. Ich habe schon in der Einleitung erwähnt, wie stark unser Drang zum Umarmen ist und wie er möglicherweise mit unserem Primatenerbe zusammenhängt. Dank der Bemühungen Hunderter von Tierverhaltensforschern wissen wir, dass die meisten Primaten Zuneigung durch »ventral-ventralen« Kontakt ausrücken (Brust an Brust und Gesicht an Gesicht), sich gegenseitig umarmen und andere hinter dem Kopf oder auf den Schultern streicheln. In ihrem Besteller In The Shadow of Man beschreibt Jane Goodall, dass die Begrüßung einander bekannter Schimpansen Verneigen, tiefes Verbeugen, Händchenhalten, Küssen, Anfassen, Umarmen und Streicheln umfasst. Außer den Menschen sind Schimpansen und Bonobos die größten Umarmer der Tierwelt, sie umarmen sich gegenseitig wenn sie aufgeregt, glücklich, ängstlich oder von Panik ergriffen sind. In seinem Buch Peacemaking among Primates (Frieden schaffen unter Affen) beschreibt Frans de Waal, wie Schimpansen sich überschwänglich küssten, umarmten und gegenseitig am Rücken streichelten, als sie nach einem langen Winter in einer etwas beengten Behausung in ein großes Freigehege gelassen wurden. Genauso wahrscheinlich ist aber, dass sie sich aneinander klammern, wenn sie unsicher sind. Die gleichen Schimpansen umarmten sich, um sich gegenseitig nach einem nervenaufreibenden Kampf zu trösten, der die
Weitere Kostenlose Bücher