Das andere Ufer der Nacht
angenehm kühl war. Aber auch dunkel!
Im ersten Augenblick kamen sich die beiden ziemlich hilflos vor, bis sie die Fenster erkannten, durch die ein graues Licht sickerte und die Umrisse der Scheibe: genau nachzeichnete.
Dunkle Bänke standen in der Kirche. Allerdings nicht geordnet, sondern kreuz und quer. Ein Zeichen, da dieses Gebäude nicht mehr benutzt wurde. Die beiden Männer sahen auch keinen Altar. Wo er gestanden hatte, gähnte ein leerer Fleck.
Dieses Gotteshaus sah aus wie entweiht.
Viviana hatte immer von den Knochen gesprochen. Zu sehen waren sie nicht. Aber sie vernahmen heiser flüsternde Männerstimmen aus der Tiefe.
Viviana wusste genau, wohin sie zu gehen hatte. Vor dem Altar schwenkte sie nach links, denn dort befand sich im Boden ein Einstieg, der unter die Kirche führte. Sie blieb am Rand der Luke stehen. »Steigt hinab! forderte sie die beiden auf.«
Suko und Bill wollten nicht. »Langsam«, flüsterte de Reporter. »Wer weiß, was uns dort erwartet!«
»Das Beinhaus.«
»Und vier Männer.«
»Auch das.«
»Wie werden sie reagieren, wenn sie uns sehen?«
Über die Lippen des Mädchens zuckte ein Lächeln »Sie werden sich freuen.«
Diese Antwort konnte man zweiseitig auslegen. Die beiden Engländer trauten der Kleinen immer weniger, aber in dem blassen Gesicht war nicht zu erkennen, ob sie es gut oder schlecht meinte. Nicht einmal die Lippen zuckten. Sie lagen aufeinander und bildeten einen geschwungenen Kussmund.
»Du gehst vor!« bestimmte Suko.
Viviana zeigte keinen Widerstand. Sie setzte sich in Bewegung, und nach einem Schritt verschwand sie schon in der Tiefe. Geschickt ging sie über die schmale Treppe, ließ sie hinter sich, blieb stehen und winkte. Suko machte den Anfang. Bill wartete noch. Er drehte sich um, schaute in das dunkle Dämmer der kleinen Kirche und hatte das Gefühl, von einer Gefahr umgeben zu sein.
Die gesamte Umgebung kam ihm nicht geheuer vor. Hier schienen selbst die Schatten ein Eigenleben zu führen, obwohl sie sich nicht rührten, aber Bill hatte das Gefühl, als stünden sie in einer lauernden Bereitschaft, um die Eindringlinge zu verhöhnen.
Auch von den Stimmen der vier Männer hörte er nichts mehr. Dafür vernahm er Sukos Stimme. »Komm, es ist okay!«
Stumm schritt Bill die Steintreppe hinab. Sie war sehr schmal. Man musste schon Acht geben, um nicht auszurutschen, denn überall auf den Stufen lagen kleinere Steine. Spinnweben klebten an den Wänden und standen dabei so weit vor, dass sie mit ihren dünnen Fäden über das Gesicht des Reporters strichen. Bill schüttelte sich. Er war kein ängstlicher Mensch und hatte schon verdammt viel erlebt, aber diese unterirdische Welt hatte doch etwas Unheimliches an sich. Neben Suko blieb er stehen. Die beiden Männer standen in einem hohen Gang. Risse zogen sich über ihre Köpfe durch die gewölbte Decke und bildeten daumentiefe Reliefs. Ein alter Geruch schwang den Männern entgegen, in dem sich Feuchtigkeit, Schimmel und Moder vereinigten. Irgendwo knackte immer etwas. Manchmal hörte es sich auch hohl an, als wären Knochen auf Knochen gefallen.
Viviana hatte sich ein Stück von ihnen entfernt und gegen die linke Wand gelehnt. In dieser Haltung wirkte sie wie ein Tote, die darauf lauerte, ins Freie steigen zu können. Ihr Gesicht war noch bleicher, die Augen dunkler, und die Handbewegung, mit der sie die beiden Männer zu sich winkte, erinnerte an den Gruß eines Zombies, so langsam geschah es. Licht gab es auch. Nur nicht dort, wo sich Suko und Bill aufhielten. Ein gutes Stück entfernt, und es war ein Fackelschein, dessen Ausläufer in den Gang hineinleuchteten, wo sie zwar nicht die Männer, dafür aber das Mädchen erfassten.
»Wir müssen weiter«, flüsterte die junge Spanierin.
»Und wo geht es hin?« fragte Suko.
»Ins Beinhaus.«
»Weshalb reden die anderen nicht mehr?«
Viviana hob die Schultern. »Ich weiß es nicht. Vielleicht warten sie auf uns.«
Bill war misstrauisch. »Wissen sie denn, dass wir kommen? Hast du es ihnen gesagt?«
»Nein, das brauchte ich nicht.«
»Also wissen sie Bescheid.«
»Bitte«, sagte das Mädchen. »Vertraut mir. Es ist besser. Ihr werdet das sehen und erleben, was ihr euch gewünscht habt. Das andere Ufer der Nacht wartet auf euch.«
»Mit anderen Worten: der Tod!«
Bill bekam auf diese Bemerkung keine Antwort. Viviana setzte sich wieder stumm in Bewegung, und nur das Zerknacken der kleinen Steine unter ihren Füßen war zu hören.
Der breite
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