Das andere Ufer der Nacht
Gewölbegang war nicht sehr lang. Schon bald mündete er in eine kleine Felsenhalle, und genau dort befanden sich die vier in der Wand befestigten Fackeln und die stockdunklen Nischen. Das Licht aber strahlte nach vorn ab, und es fiel zuckend und flackernd genau auf das Ziel, das für Bill und Suko wichtig war.
Der Knochenhaufen! Aufgeschichtet wie Sand, wuchs er in die Höhe und bildete einen Hügel. Auch alte Knochen sind bleich, stockig, die hier wurden vom Fackelschein umflort und nahmen auch die rotgelbe Farbe an, wobei manchmal die düsteren Schatteninseln des Lichts überwogen und völlig lautlos über den bleichen Berg strichen. Dieses Bild hatte etwas Unheimliches an sich. Selbst die beiden Männer waren davon überrascht und schauten sich an. Bill mit einem fragenden Ausdruck in den Augen, Suko lauernd. Er war es auch, der sich an die Führerin wandte.
»Wo befinden sich die vier Männer?«
Sie hob die schmalen Schultern. »Ich kann es nicht sagen. Ich weiß nur, dass sie die Knochen brauchen. Vielleicht haben sie schon welche genommen und sind zur Barke gegangen.«
»Eine Barke ist ein Boot«, sagte Suko. »Und ein Boot muss schwimmen. Demnach müsste sich hier ein Fluss befinden.«
»Den gibt es. Wenn ihr weiter in den Berg hineinlauft, werdet ihr das geheimnisvolle Rauschen des Totenflusses hören.«
»Totenfluss?« wiederholte Bill.
»Ja, so wird er genannt, der die Barke an das andere Ufer der Nacht bringt.«
Für die beiden Freunde wurde der Fall immer verworrener. Sie hatten den Eindruck, als sollten sie trotz allem hereingelegt werden, ebenso wie John Sinclair, von dem sie nichts gehört hatten und der sich im Schloss der Senora Marquez befand.
Viviana hatte sich an der linken Seite des Knochenbergs aufgebaut. Den Arm hielt sie ausgestreckt und deutete auf die Ansammlung der Gebeine. »Das sind sie«, erklärte das Mädchen. »Es sind die Knochen derjenigen, die unter der grausamen Folter der Inquisition gestorben sind. König Philipp der Zweite, der sich der Inquisition verschrieben hatte und erst während seines langen Sterbens büßte, ist in diese Berge gekommen und suchte sich das Dorf Santera aus. Er machte es zu einer Hochburg der Folter. Unter dieser Kirche gellten die Schreie auf, wenn seine Folterknechte sich der Bedauernswerten annahmen.«
Bill nickte. »Davon haben wir gehört. Wir kennen die blutige Geschichte der Inquisition. Spielt sie eine Rolle in dem Fall, der uns hergeführt hat?«
»Eine sehr große sogar.«
»Und welche?«
Viviana schüttelte den Kopf. »Ihr müsst Geduld haben, ihr werdet alles erfahren, alles…« Sie lächelte wieder so geheimnisvoll, um sich dann zurückzuziehen und in der Dunkelheit unterzutauchen. Bill und Suko werteten dies als ein Zeichen. Sie wollten auch etwas dagegen tun, aber sie kamen nicht mehr dazu, denn aus den Nischen lösten sich die Gestalten.
Vier waren es. Männer, die nicht am Feuerwerk teilnahmen, dafür aber bewaffnet das Beinhaus betreten hatten. Plötzlich schauten die Männer aus England in die Mündungen der Gewehre, und sie wussten, dass sie in diesem Augenblick keine Chancen hatten. Trotz ihrer Wachsamkeit war die Falle zugeschnappt.
Einer der vier entbot ihnen einen höhnischen Gruß. »Willkommen im Reich des Schreckens…« Es war der Wirt der Herberge, der gesprochen hatte…
***
Im dünnen Schein meiner Lampe sah ich, dass der alte Mann schwitzte. Deshalb holte ich ein Tuch hervor und tupfte ihm die Schweißperlen von der Stirn, was er mit einem dankbaren Blick quittierte. Es lag noch nicht lange zurück, da hatte ich ebenfalls von einem Sterbenden Informationen erhalten. Es war in einer Londoner Kirche gewesen, und der Mann damals hatte mir von den drei Gräbern berichtet, die nach Atlantis führten. [1]
Was würde mir dieser Mann sagen?
»Ich heiße Manuel Sandoz und habe mich mein ganzes Leben über mit der spanischen Geschichte, der Mystik und der Legendenbildung beschäftigt. Ich wusste über die Inquisition Bescheid und fand in alten Aufzeichnungen den Namen des Dorfes Santera. In diesem Ort quartierte ich mich ein, um meine Studien zu beginnen, und ich war erfolgreich. Das andere Ufer der Nacht habe ich sogar am eigenen Leibe erlebt!«
»Das Jenseits also?«
»Ja, Fremder, ja«, sagte der Alte mit rauher Stimme. »Dort ist es noch viel dunkler als in der normalen Nacht. Das andere Ufer der Nacht ist der Schrecken. Wer da hineintaucht, ist verloren. Er muss über den Fluss und sich am Knochenmast der
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