Das andere Ufer der Nacht
Barke fesseln lassen. Nur so kann er das andere Ufer erreichen.«
»Und was erwartet ihn da?«
Sandoz wollte lachen, es wurde nur ein trockenes Husten daraus. »Was ihn dort erwartet, kann ich nicht beschreiben. Es ist die ewige Finsternis, die Leere, die Dunkelheit, die Dimension ohne Hoffnung. Es ist das Jenseits, das hier seine Grenze hat. Eine magische Grenze, die vor langer Zeit aufgebaut wurde.«
»Von wem?«
»Von denjenigen, die hier herrschten. Es war die Familie der Marquez. Sie waren es, die den Schrecken herholten, sie waren königstreu, sie dienten der Inquisition und der schwarzen Magie, denn sie wollten das Jenseits erfahren und einen Weg zu ihm finden.«
»Ist dieser Fluss der Weg?«
»Ja, ein Weg voller Leid und Tränen. Die Knochenbarke ist aus den Gebeinen derjenigen gebaut, die in den langen Jahren der Inquisition ihr Leben verloren hatten. Die Burg, der Berg und der Fluss haben es in sich. Nur wenige wissen davon, und die es wissen, halten den Mund, denn noch immer ist das Geschlecht der Marquez sehr mächtig. Die Senora herrscht über die Region. Ob sie schon tot ist oder noch lebt, es weiß niemand genau Bescheid. Auch traut sich keiner, danach zu fragen, aber sie ist die geheimnisvolle Königin im Hintergrund und hat es geschafft, die Grenze zwischen dem Diesseits und dem Jenseits zu überbrücken. Der Fluss ist die Grenze. Sie musst du überschreiten, und nur in der Totenbarke ist das möglich. Nur damit, hörst du?« Er richtete sich auf, und es gelang ihm auch, weil er mein Gelenk umklammert hielt. Ich blickte in sein beschwörend verzogenes Gesicht.
Dieser Mann wollte unter allen Umständen, dass ich ihm Glauben schenkte. Deshalb hatte er sich noch einmal aufgerafft und mir die Botschaft übermittelt. Mehr konnte er nicht sagen. Ich wollte ihn noch fragen und sah, dass sein Blick gebrochen war.
Einen Toten hielt ich fest. In den letzten Sekunden seines Lebens hatte er sich noch so hart an mich geklammert, dass es mir nur mit großer Mühe gelang, die Finger von meinem Gelenk zu lösen. Beinahe hätte ich seine Knochen sogar brechen müssen.
Ich drückte ihn zurück. Im Tode hatte sein Gesicht einen entspannteren Ausdruck gefunden. Gern hätte ich mehr von ihm gehört, ob er richtig drüben gewesen war und weshalb er nicht gestorben, sondern zurück gekommen war. Wenn ich auf diese Fragen eine Antwort finden wollte, musste ich selbst hinüber.
Es war still geworden. Auch das harte Flüstern des Manuel Sandoz war verstummt, so dass ich mich auf die Geräusche konzentrieren konnte, die ich trotzdem hörte. Es war das ferne Rauschen!
Nie abgehackt klingend, gleichmäßig, auf irgendeine Art und Weise für mich auch lockend, denn dort würde ich in der Praxis die Antwort finden, die mir der Sterbende bisher nur hatte andeuten können. Der Fluss war die Grenze. Er trennte das Diesseits vom Jenseits. Eigentlich ein Irrsinn, wenn ich genauer darüber nachdachte, aber ich wusste auch, dass die Schwarze Magie in einen solchen Kreislauf ebenfalls eingreifen konnte.
Verloren kam ich mir neben dem Toten vor, dessen Gesicht sich kaum von der Farbe der übrigen Steine abhob. Seine Augen hatte ich ihm zugedrückt, weil ich diesen leeren Blick einfach nicht ertragen konnte. Ich hätte immer wieder hinschauen müssen, so aber konnte ich sein Gesicht besser ertragen.
Meine Gedanken irrten ab. Ich befand mich plötzlich wieder in London und dachte daran, wie dieser verzwickte Fall überhaupt begonnen hatte. Eigentlich trug mein Freund Bill Conolly ja die Schuld daran, denn er war zu uns gekommen und hatte uns eine spanische Zeitung auf den Tisch geknallt, in der eine Annonce rot markiert worden war.
»Lies selbst!«
Ich hatte gelesen und mich über den Text gewundert. Da suchte eine gewisse Senora Marquez Menschen, die einen Blick ins Jenseits werfen wollten. Wer sich bei ihr meldete und einen Test bestand, konnte sich anschließend dieser unwirklichen Aufgabe widmen und voller Mut an sie herangehen.
»Das ist doch Bauernfängerei«, hatte ich zu Bill gesagt.
»Das dachte ich auch, John. Aber ich habe Erfahrungen eingeholt und mit einigen Bekannten telefoniert. Diese Senora Marquez gibt es wirklich.«
»Mag sein. Ist das für dich ein Beweis?«
»Auch nicht. Nur ist dieser Bekannte zufällig auch Reporter und wurde neugierig. Er ging dem Fall nach. Dann erreichte mich sein zweiter Anruf. Der riss mich vom Hocker. Es sind in den letzten drei Monaten tatsächlich die Menschen verschwunden,
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