Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
das zur Sache tut«, fauchte Jeanne, doch dann stutzte sie und stieß einen Seufzer der Erleichterung aus. »Er ist ihr wie aus dem Gesicht geschnitten.«
»Ja, das finde ich auch. Er hat Glück, dass er nicht nach seinem Vater gerät«, fügte Gret lästerlich hinzu.
In diesem Moment löste sich Elisabeth aus den Armen des jungen Mannes, und ihr Blick glitt zu den beiden Freundinnen, die noch immer auf der Brücke standen. Sie winkte sie zu sich.
»Gret, Jeanne, begrüßt meinen Bruder Georg, der von einer langen Reise zurückgekehrt ist. Georg, das sind meine vertrauten
… äh … Mägde Gret und Jeanne, die sich stets um mein Wohlergehen bemühen.«
Während Gret und Jeanne vor dem Sohn des Bischofs artig knicksten, gönnte er ihnen nur ein flüchtiges Nicken.
Ein Mann mit einem Sack auf dem Rücken trat zu ihnen. »Verzeiht, dass ich störe, Meister Georg, aber wohin soll ich diesen Sack bringen, den Ihr in Indien erworben habt?«
Georg überlegte kurz. »Bring ihn in die leere Kammer neben dem Gemach, das Meister Thomas bewohnen wird. Wir werden dort eine kleine Alchemistenküche einrichten müssen.«
Der Mann nickte und strebte mit seiner Last auf die Zugbrücke zu.
»Wer ist Meister Thomas?«, fragte Elisabeth neugierig.
»Kurz gesagt, heute ein guter Freund; zu Anfang nur ein Mann, der sich dem Kaufmann, der mich in die Lehre nahm, auf seiner Reise angeschlossen hat. Du wirst Thomas kennenlernen. Lass mich aber zuerst dafür sorgen, dass alle Waren gut versorgt sind, dann können wir uns zum Mahl zusammensetzen, und ich werde dir alles erzählen. So lange wirst du deine Ungeduld wohl noch bezähmen müssen, auch wenn es dir schwerfällt.« Er strich ihr noch einmal über die Wange und lächelte verschmitzt. »Ich nehme an, Geduld gehört noch immer nicht zu deinen Tugenden, liebste Schwester?«
»Nein, gehört sie nicht«, seufzte Elisabeth, »und du hast sie verdammt lange strapaziert.«
»Schwester, ich bin entsetzt, ein Fluch aus deinem zarten, jungfräulichen Mund!«, spottete Georg gutmütig.
»Ja, ein Fluch ist hier durchaus angemessen. Drei ganze lange Jahre, die du auf Reisen warst und während derer ich nicht einmal wusste, ob du noch lebst!« Eine Träne rollte über ihre Wange. Georg hob die Hand und wischte sie ab.
»Ich werde es wiedergutmachen, Schwesterherz, ich verspreche
es. Von nun an kannst du auf mich zählen. Ich bin als zorniger Jüngling aus Würzburg gezogen, und ich komme als gemachter Mann wieder. Ja, sieh mich nicht so ungläubig an. Trotz meiner Jugend habe ich viel erreicht. Von nun an werde ich meine eigenen Handelsreisen unternehmen. Ich habe alles gelernt, was Meister Johann mir beibringen wollte. Doch nun lass mich meine Arbeit tun. Später ist Zeit, zu allem Rede und Antwort zu stehen.«
Er wandte sich ab und trat zu einem Wagen, von dem gerade kleine hölzerne Kästchen abgeladen wurden. Elisabeth und die beiden Mägde sahen ihm noch eine Weile zu, dann schritten sie in die Burg zurück, um ein Mahl für die Männer der Handelskarawane zubereiten zu lassen.
»Ich werde ihm etwas ganz Besonderes kochen«, versprach Gret. »Wenn dieser Tyrann von einem Küchenmeister mich lässt«, fügte sie düster hinzu, ehe sie die Treppe zur Küche hinunterlief.
Viermal eilte Elisabeth in die Küche, und der Koch war nahe daran durchzudrehen, bis die Tafel in der Stube endlich ihren Wünschen entsprach. Sie hatte diesen kleinen, prächtigen Raum gewählt, in dem auch der Bischof zuweilen gespeist hatte, wenn er keine Gäste erwartete und nur wenige seiner engsten Vertrauten mit ihm zu Tisch saßen. Was in den vergangenen Jahren allerdings nicht häufig vorgekommen war. Elisabeth dagegen bevorzugte diese intime Runde und hoffte, ihr Bruder werde nicht zu viele seiner Reisegefährten mit zum Mahl bringen. Sonst würde sie womöglich alles in den großen Saal bringen lassen müssen.
Noch einmal umrundete sie die Tafel mit kritischem Blick. Heute war schließlich ein besonderer Tag. Hatte der Vater in der biblischen Geschichte nicht auch das Beste auftischen lassen, als der verlorene Sohn in die Heimat zurückkehrte?
Nun gut, Georg war nicht verloren gewesen, obwohl Elisabeth
die meiste Zeit über nicht einmal gewusst hatte, durch welches ferne Land er gerade reiste, ja, ob er überhaupt noch am Leben oder vielleicht einem tückischen Leiden oder einer Bande Wegelagerer zum Opfer gefallen war. Und er war auch nicht gegen den Willen des Vaters mit dem Kaufmann Meister
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