Das Antlitz der Ehre: Roman (German Edition)
ihr unangenehme Fragen stellte. Windschief und baufällig war die Scheune, doch sie musste für diese Nacht genügen. Elisabeth zog das Pferd hinein und schloss hinter ihnen die Tür. In völliger Finsternis saß sie in Mantel und Decke gehüllt auf einem Haufen Stroh und lauschte dem immer kräftiger werdenden Heulen des Windes, der um die morschen Bretterwände fuhr. Nur das zufriedene Kauen des Pferdes, das sich am Heu des Bauern gütlich tat, tröstete sie ein wenig. Wie gerne hätte sie sich an den warmen Pferdeleib gekuschelt, doch so viel Vertrauen wie ihre eigenen Pferde früher schenkte ihr das Ross des Boten nicht.
Am Morgen erhob sie sich steif, aß und trank ein wenig und sattelte das Pferd. Ein Holzklotz half ihr, in den Sattel zu kommen. Elisabeth stieß die Tür auf. Ein eisiger Luftstoß
blähte ihren Mantel. Wie hatte sich die Landschaft über Nacht verändert! Es musste die ganze Nacht geschneit haben, und es sah nicht danach aus, als würde es bald besser werden. Elisabeth trieb den Wallach über die Wiese und an dem kleinen Wäldchen vorbei, das sie gestern im Westen vor sich gesehen hatte. Aber wie ging es nun weiter? Sie hatte Nürnberg im Norden umritten. Wie weit war sie gekommen? Lag die Stadt schon hinter ihr? Musste sie nun wieder nach Süden, um auf die Landstraße zu treffen? Sich bei diesem Wetter ohne Weg und Steg nicht zu verirren, traute sie sich nicht zu. Ja, sie fürchtete gar, jetzt schon die Richtung verloren zu haben. Wie sollte sie in diesem Schneetreiben herausfinden, wo Süden war?
Sie sah den vom Wind getriebenen Schneeflocken hinterher. Der Winterwind kam meist aus Westen oder aus Norden. Wenn sie also die schneebedeckte Seite der Bäume rechts von sich ließ, müsste sie irgendwann auf die Straße stoßen. Vielleicht. Elisabeth beschloss, es zu versuchen.
Eigentlich würde sie die Landstraße lieber meiden. Sie konnte sich nach den Erzählungen der Frauen der Eselswirtin lebhaft vorstellen, was einer Frau alles zustoßen konnte. Aber wie sollte sie Würzburg bei diesem Wetter finden, wenn sie querfeldein ritt? Vielleicht war in diesen Tagen auf der Straße gar nicht so viel los. Oder war sie gar so eingeschneit, dass man sie nicht einmal mehr erkennen konnte?
Viele bange Fragen wirbelten ihr im Kopf umher, während sie sich voranquälte. Endlich traf sie auf Karrenspuren und Hufabdrücke, die von Südost nach Nordwest führten, falls ihre Annahme mit der Windrichtung korrekt war.
Elisabeth war zuversichtlich, die Straße gefunden zu haben, und bog nach rechts auf die Spuren ein. Stunde um Stunde folgte sie den mal deutlichen, dann wieder beinahe verwehten Spuren, ohne einen Menschen zu treffen. Bald hatte sie jedes Gefühl von Zeit verloren. Es gab keine Sonne, an deren
Wanderung sie sich hätte orientieren können. Nur das Grau über ihr und das Weiß rundherum, das sich langsam verdunkelte und ihr das Gefühl gab, blind zu werden. So trottete das Pferd mit gesenktem Kopf dahin. Kein Hufschlag war zu hören. Und auch sonst war die Welt um sie sonderbar still.
Plötzlich riss das Pferd den Kopf hoch. Die Ohren stellten sich steil auf. Elisabeth wurde aus ihrem Dämmerzustand gerissen.
»Was hast du denn gesehen?«, fragte sie den Wallach undeutlich mit vor Kälte tauben Lippen. Sie kniff die Augen zusammen und versuchte durch das Schneetreiben etwas zu erkennen. Mit einem Mal schwand selbst das diffuse Licht. Der Wind frischte auf und heulte zwischen den Stämmen der kahlen Bäume. War der Tag bereits zu Ende? Sie sah zu den nun finsteren Wolken auf, die bedrohlich auf sie herabzudrücken schienen. Ein Grollen hallte über die verschneite Landschaft, und ein ferner Lichtschein zeichnete für einen Moment die Konturen der aufquellenden Wolken nach. Wieder schnaubte das Pferd. Es blieb stehen und starrte nach vorn.
Elisabeth hatte gerade ein Wäldchen hinter sich gelassen. Vor ihnen breiteten sich Felder und Wiesen aus, durch die sich undeutlich die Spuren der Straße zu einem flachen Hügel wanden, dessen Kuppe von einem Tannenwald bedeckt war. Elisabeths Blick verharrte an der Stelle, wo die Straße zwischen den Bäumen verschwand. Bewegte sich dort zwischen den Stämmen etwas? Ihr war, als könne sie Reiter sehen. Zwei, drei – nein, mehr. Es mussten mindestens ein Dutzend sein. Ja, nun kamen sie langsam den Hügel herunter.
Ein seltsames Kribbeln breitete sich in ihrem Leib aus, das nichts mit Kälte und Erschöpfung zu tun hatte. Wollte ihr Gefühl sie warnen?
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