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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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Sessel. Tausende von Büchern, Fachliteratur, das Hobby des Ministerialrates. Herbert hatte das Zeug also offensichtlich geerbt. Was es da aber so hoch zu versichern gab, war Bill unerklärlich. Aber vielleicht hatte sich in den letzten zehn Jahren dort etwas geändert. Er beschloß, sich das alles am nächsten Tag anzusehen. Immerhin, das Ganze war etwas Neues, auch Hammerlang schien davon nichts zu wissen, er hätte es ihm sonst sicherlich gesagt, als über die letztwillige Verfügung Herberts gesprochen wurde. Wenn Bill jetzt alles erbte, was Herbert gehörte, mußte er auch die Versicherung bezahlen, oder sie ändern. Sein Kopf schmerzte, er nahm nun doch eine Schlaftablette. Die Kastentür knarrte wieder, wütend gab er ihr einen Tritt, aber sie sprang wieder auf. Bill drehte das Radio an, stellte auf leise Musik und versuchte einzuschlafen. Schlimmstenfalls war noch eine Tablette notwendig. Er mußte daran denken, wie lange zehn Jahre im Leben eines Menschen sind, was ein Jahrzehnt bedeutet, wie sehr sich das Leben und die Menschen in zehn Jahren ändern. Wenn er nur einschlafen könnte!
    In gleichbleibender Umgebung merkt man den Ablauf der Zeit kaum. Man sieht die vertrauten Gesichter des Bekanntenkreises, man sieht sein eigenes Gesicht im Spiegel, täglich oder in noch kürzeren Abständen. Man bemerkt keine Veränderung. Sicher, man wird älter, aber das Gute daran ist, man nimmt es kaum wahr. Und wie gerecht doch die Natur ist: alle werden älter, niemand bleibt verschont. Wohl die einzige irdische Gerechtigkeit auf dieser Welt. Schlaf, komm doch endlich!
    Er war erschrocken, als er seinen toten Freund identifizieren mußte. Es waren nicht die Starre des Todes, die gebrochenen Augen, auch nicht die klaffende Wunde. Es war dieses vertraute und doch so alt gewordene Gesicht, was ihn erschreckt hatte. Sein Freund, ein alter Mann. Bill hatte ihn noch jungenhaft, voll Energie und Humor in Erinnerung.
    Plötzlich fuhr er hoch, sprang aus dem Bett. Was war das? Hatte er schon geschlafen? War es ein Geräusch, wieder die Kastentür? Das Radio brummte nur mehr leise. Was war das, das ihn aufgeschreckt hatte? Der Schrebergarten!
    Bill spürte, wie sein Kopf heiß wurde. Der Schrebergarten, natürlich. Er drehte das Licht an, nahm seine Aktentasche vom Tisch und schüttete den Inhalt auf das Bett. Papiere, wo war der Zettel? Der Zettel mit Herberts letzten Worten, den Hammerlang ihm gegeben hatte. Da! Geh zum Schneberg, las Bill, zum hundertsten Mal. Er sah sich das n im Wort Schneberg an.
    Alles war undeutlich geschrieben, mit der letzten Anstrengung eines Sterbenden. Das n war kein n, es mußte ein r sein, es sollte Schrebergarten heißen, nur konnte Herbert das Wort nicht mehr beenden. Klar! Geh zum Schrebergarten, wollte ihm sein Freund mitteilen. Bill spürte, wie sein Herz klopfte. Mit dem Schlafen war es jetzt vorbei. Er mußte ganz automatisch den Weg zurückgegangen sein, den er gekommen war. Sein Kopf dröhnte, das Schlafpulver in Verbindung mit Alkohol und der schockartigen Erkenntnis von Herberts letzter Nachricht zeigte seine Wirkung. Er spürte, wie sein Gehirn blockiert war und trotzdem alle seine Nerven vibrierten. Der Schrebergarten, das war es also. Herbert wollte ihn in seiner letzten Minute dazu auffordern, in diesen Schrebergarten Rossmaneks zu gehen. Mit dieser Erkenntnis war ein großer Schritt vorwärts getan. Was er in diesem Schrebergarten allerdings sollte, blieb unklar.
    Das Mädchen Christa in den hellblauen Jeans war kein bißchen überrascht, als sie den interessanten Gast von vorhin plötzlich vor sich sah. Sie war eher geschmeichelt, weil alles so schnell ging, aber sie hatte es ja gewußt, daß der Mann irgendwann einmal privat kommen würde. »Ich sperre gerade zu«, sagte sie, höchst überflüssig, denn sogar in der Dunkelheit der Vorstadtgasse konnte man das erkennen. Bill hörte sie reden und den Schlüsselbund klimpern. »Schade«, hörte er sich dann selbst sagen, »ich hätte gern noch etwas getrunken.«
    Nochmals aufsperren sei kein Problem, meinte Christa, aber Licht dürfe sie keines machen, wegen der Sperrstunde. »Es ist zwei Uhr vorbei«, sagte sie, und sie wolle keinen Ärger mit der Polizei. Bill meinte, zum Trinken brauche er kein Licht. Er hörte sie leise lachen, und der Schlüsselbund klimperte wieder.
    Im Lokal war es warm, und es roch wie in einem großen Aschenbecher. Es war wesentlich dunkler als draußen auf der Straße. Er hörte das Mädchen herumhantieren;

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