Das Archiv
den Magen fuhr. Er hatte den ganzen Tag nichts gegessen.
»Abend, Herr Inspektor«, sagte Bill und ging zu dem Polizisten, »wo ist bitte die Schreyvoglgasse?« Der Polizist trank den Kaffee aus. »Gleich um die Ecke«, sagte er, »welche Nummer?«
»Siebzehn«, sagte Bill und legte seinen Hut auf die Bar. »Siebzehn?« der Polizist sah ihn an.
»Ich hätte gern noch ein Gulasch, wenn’s geht«, sagte Bill. Der Wirt schaute unwillig, aber der Polizist nickte. »Ein Gulasch Fanny«, sagte der Wirt, und die Frau hörte zu stricken auf und schlürfte in die Küche. »Und ein Viertel Weißen«, sagte Bill. Der Wirt schenkte den Wein ein. »Zu wem auf siebzehn?« wollte der Polizist wissen.
Bill trank den Wein, er schmeckte. »Zu mir, ich wohne dort.« Die Kartenspieler hörten auf und glotzten. Einer, der um die Ecke wohnte und den Weg nicht wußte. Um des Gulaschs willen beschloß Bill, die Sache zu klären. Er war schließlich in Wien und nicht in Brooklyn. Er legte seinen Paß und den Schlüsselbund vor den Polizisten auf die Theke und sagte: »Ich komme grad von der Wachstube. Die Wohnung ist versiegelt, aber es konnte keiner mitkommen.«
»Ah, Sie sind der«, sagte der Polizist, »weiß schon. Aha, ich geh dann mit Ihnen rüber, zeig Ihnen die Wohnung. Noch einen Kaffee, bitte. Aha, Sie sind der. War das ein Verwandter, der Ermordete?«
»Mein Freund«, sagte Bill. Das Gulasch kam. Es schmeckte. »Wieso reden Sie so gut deutsch, wenn Sie Amerikaner sind«, wollte der Polizist wissen, er schob den Paß und die Schlüssel zurück.
Die Kartenspieler hatten die Münder offen und die Ohren gespitzt. Der Wirt war plötzlich freundlich und redselig. »Er war oft da bei uns, der Herr Winkler. Netter Mensch. Ein netter Mensch, Ihr Freund, net wahr, Fanny. Sie reden aber wirklich gut deutsch, Herr …«
»Weiss, Willi Weiss«, sagte Bill. »Und ich bin kein Ami, war nur die letzten zehn Jahre drüben.« Er trank sein Viertel aus. »Schau her, Fanny«, der Wirt freute sich richtig, »da schau her, der Herr ist eh ein unsriger, der Freund vom Herrn Winkler, hab ihn selig. Er war oft bei uns, Ihner Freund, eh meistens zur Sperrstund.« Das war neu und interessant für Bill. Hier hatte Herbert also verkehrt. Nun, das war schließlich normal, wenn er gleich um die Ecke gewohnt hatte. Er kannte doch die Lebensgewohnheiten seines Freundes. Vor Mitternacht ging der nie ins Bett. Daran hatte sich in den letzten zehn Jahren wohl auch nichts geändert. »Solcherne Hund«, sagte der Wirt böse, »den Herrn Winkler einfach umzulegen, am hellichten Tag, solche Hunde. Wie in Chikago. Die Zeitungen schreiben …«
»Die Zeitungen wissen gar nix«, sagte der Polizist und trank seinen Kaffee.
»Zeiten san des«, sagte nun ein Kartenspieler, »Zeiten san des, das hätte es früher net geben. Und was macht die Polizei? Kaffeetrinken.« Er blickte beifallheischend in die Runde. »Früher hätt’s das net gegeben, beim Hitler.« Seine Kartenbrüder nickten.
Im Briefschlitz der Wohnungstür steckte ein Büschel Papier, Reklamesendungen, Zeitungen. Auch als Bill die Tür langsam öffnete, raschelten Briefe und Zeitungen, die den Weg durch den Briefschlitz nach innen gefunden hatten. So, als ob jemand vom Urlaub heimkommt, dachte Bill. In der Wohnung roch es wie in einem Kaffeehaus am Sperrtag, nach kaltem Rauch und ungewaschenem Geschirr. Bill konnte zuerst den Lichtschalter nicht finden. Der Polizist sagte irgendwas und ging die Stiegen hinunter. »Gute Nacht«, rief ihm Bill nach und dachte gleichzeitig, wie dumm das war, einem Polizisten, der Nachtdienst hatte, eine gute Nacht zu wünschen. Das also war die Wohnung. Erschreckend klein. Winziges Vorzimmer, eine Badenische, ein einziger mittelgroßer Raum, in einer Ecke ein Plastikvorhang, dahinter ein Wasseranschluß und zwei Kochplatten. Ein Schrank war da, die Tür stand offen. Ein paar Anzüge hingen drin. Auf einem Tischchen Zeitungen, Zigaretten und ein paar Socken. Ein voller Aschenbecher und leere Bierflaschen. Keine Gläser. Hier hatte Herbert also gewohnt.
In der Badenische vor dem Wandspiegel fand Bill ein Fläschchen mit Pillen und hoffte, es würden Schlaftabletten sein. Mühselig entzifferte er das Etikett, Gott sei Dank, es waren starke Beruhigungstabletten, und er nahm eine ordentliche Dosis. Eine Lesebrille war auch so etwas, das er sich schon lange hätte anschaffen sollen. Aber dazu war ja nie Zeit, drüben in Brooklyn.
Es fiel ihm ein, daß sein Koffer immer
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