Das Archiv
noch in der Gepäckaufbewahrung am Westbahnhof war und er nicht einmal sein Rasierzeug mithatte. Aber es war alles da, und schließlich hatte er lange genug mit Herbert zusammengelebt. Es lag alles, wo es immer lag. Das Rasierwasser war dasselbe wie vor zehn Jahren, ebenso die Marke von Zahnpaste, Haarwasser und Bodyspray, von dem Herbert immer reichlich Gebrauch gemacht hatte. Alles roch nach seinem Freund, nach der guten alten Zeit ihres Zusammenlebens, und es war einfach schwer vorstellbar, daß Herbert tot sein sollte.
Hinter dem Plastikvorhang, in der Kochnische, entdeckte Bill einen Kühlschrank. Er hatte nicht gewußt, daß es so winzige Kühlschränke gab. Ein paar Flaschen Bier waren drinnen und eine halbvolle Flasche Whisky. Viel mehr hätte nicht Platz gehabt. Er trank den Whisky aus der Flasche. Gläser hatten sie früher auch nie gebraucht, er und Herbert, wenn sie zusammen wohnten.
Herbert war also tot. Eine Tatsache. Bill hatte seine Leiche gesehen und identifiziert. Er hatte dieses vertraute Gesicht gesehen, mit den grauen Bartstoppeln, das so alt geworden war.
VI
Er hörte das Telefon läuten und dachte, Joan würde abheben, wie üblich, bis ihm plötzlich einfiel, daß es keine Joan mehr gab und er in Wien war, in Herberts Wohnung. Es war noch halbdunkel im Zimmer, und als er abhob, hörte er zwei Sekunden lang das Rauschen in der Leitung, dann seine eigene heisere Stimme zweimal »hallo« sagen, dann das erbarmungslose »Klick«, der Anrufer hatte aufgehängt. Es ging also schon los.
Trotz seines dumpfen Kopfes war ihm klar, daß sich irgend jemand vergewissern wollte, ob er in Wien war, in dieser Wohnung. Wer aber war dieser Irgendjemand? Es war so wie früher, nur war er jetzt zehn Jahre älter, und an diesem Morgen fühlte er sich wie hundertzwanzig. Er sah auf seine Armbanduhr. Es war genau sieben, eine unchristliche Zeit. Regentropfen prasselten an die Fensterscheiben. Es war ungemütlich kalt.
Für Bill begann ein Tag, der sich von den folgenden kaum unterscheiden sollte. Alles war grau in grau, seine Situation erschien hoffnungslos. Wenn wenigstens der verdammte Regen aufgehört hätte. Aber wenn man aus dem Fenster sah, mußte man glauben, die Sonne könnte niemals mehr scheinen.
Ganz anders hatte sich Wilhelm »Bill« Weiss seine Rückkehr in die Heimat vorgestellt. Die Ermordung seines Freundes war nicht nur ein seelischer Schock für ihn, auch die reale Situation war so unvermutet. Bill hatte keine Ahnung, wie es weitergehen sollte. Klare Gedanken zu fassen fiel ihm schwer, aber so viel wußte er, daß er nur für ein paar Monate die Mittel zum Leben hatte, und dann mußte er zu Geld kommen, aber wie? Existenzsorgen mit Fünfzig sind ziemlich schlimm. Vorerst gab es eine Menge zu erledigen, aber nur Unangenehmes: Formalitäten bei der Polizei und bei Ämtern und immer wieder Befragungen bei Hammerlang, der zunehmend mißmutiger wurde, wahrscheinlich hatte er sich von Bills Aussagen mehr erhofft. Die Zeitungen schrieben immer noch über den »Postmord« und vermuteten ein Agentendrama, der Tote im Kofferraum war noch nicht identifiziert und schien auch niemandem abzugehen. Bills Bemühungen, durch konzentriertes Nachdenken weiterzukommen, waren vorerst vergeblich. Es lag wohl an ihm, er fühlte es. So wie ein Schachspieler, der instinktiv spürt, daß es eine Lösung gibt, diese aber nicht finden kann. Es waren besonders die Abende und angebrochenen Nächte, in denen er in Kneipen herumsaß und zu denken versuchte. Das Wirtshaus gleich um die Ecke, das Stammlokal Herberts, in das er in der ersten Nacht hineingeraten war, mied er.
Die Leute kannten ihn dort jetzt, und auf das wichtigtuerische Getuschel der Stammgäste und die neugierigen Fragen konnte er verzichten.
Sein bevorzugtes Lokal war das Chat noir, eine Mischung von Espresso und Bar, und schwarze Katzen gab es dort keine, weder zwei- noch vierbeinige. Weibliche dunkle Typen glichen eher schwarzen Ratten, man war eben in der Vorstadt. Das Chat noir hatte aber bis zwei Uhr früh geöffnet, war nie überfüllt, meist halbleer, und das Barmädchen hieß Christa und war gut anzuschauen. Dort auf einem Barhocker saß also Bill stundenlang und starrte in sein Weinglas. Wie hatte der alte Rossmanek doch immer gesagt: »Denken Sie, benützen Sie Ihr Gehirn. Der liebe Gott hat Ihnen ein Gehirn gegeben. Ein Gehirn ist zum Denken da und nicht für Kopfweh. Durch Nachdenken findet man immer eine Lösung, und wenn Sie eine Lösung
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