Das Archiv
Erich Kilian schwieg und beobachtete intensiv die Hände der servierenden Kellnerin, nahm dann einen Schluck und wischte sich mit dem Rockärmel über den Mund. Bill konnte sehen, wie sich seine Gesichtszüge entspannten, einen eigenartig ironischen Ausdruck annahmen. Er sah auch die vielen Schuppen an Erichs Kragen und die Flecken an Rock und Hemd. Immerhin, seine Fingernägel waren sauber.
Bill versuchte es mit Zynismus: »Du bist Professor und zweifacher Doktor. Du warst schon immer eine Intelligenzbestie. Wenigstens könntest du mir eine Antwort geben.« Kilian trank aus und grinste hämisch. »Zahl noch einen, und ich geb’ dir die Antwort, schließlich hat das Studium was gekostet.« Ein dritter doppelter Weinbrand kam, und Bill nippte nur.
»Essen?« Nein, Kilian wollte nichts essen. Bill bestellte sich ein Paar Debreziner, fast schuldbewußt. Mit Senf. Die Antwort? Wie es Erich denn so gehe? »Laß diese blöde Fragerei!« sagte Kilian und stand auf. Das war genau in dem Moment, als Bill fragte: »Lebt deine Mutter noch?« Erich Kilian kam bis in die Mitte der Gaststube, drehte dann um und setzte sich wieder. Er griff nach seinem Glas, aber es war leer.
»Was willst du eigentlich?« fragte er leise. Bill hob eine Hand, die Serviererin kam, er tippte auf Erichs leeres Glas. »Für mich noch ein Bier«, sagte er. So ging es also nicht, das war ihm klar.
Er beendete seine Würstel und zündete sich eine Zigarette an. Kilian rauchte nicht. »Trink aus und geh wieder«, sagte er. »Ich will gar nichts von dir, du studiertes Arschloch. Servus dann.« Er stand auf und ging auf die Toilette. Er ließ sich Zeit, wusch sorgfältig Hände und Gesicht, trocknete sich an einem dieser modernen Heißluftstrahler die Hände und führte ein kurzes Selbstgespräch vor dem Spiegel. Kein freundliches. Dann ging er zum Tisch zurück. Kilian saß noch immer da.
Er saß da und dachte zurück an seine Mutter und an seine Schulzeit.
»Wenn ich was tun kann für dich, sag es doch«, meinte er friedlich. »Du willst doch etwas von mir. Also sag es.« Bill war noch mitten in seiner Erklärung über Gabelsberger Kurzschrift und russischen Text, als Kilian die Hand hob. Er hatte verstanden.
»Ich kann das«, sagte er. »Du siehst, was aus mir geworden ist, aber ich kann das noch. Was bringt es mir?«
»Dreitausend, zunächst als Vorschuß.« Wenn er, Bill, später wüßte, was in den Schriftstücken stehe, könne man weiterreden.
»Ich muß vorerst einmal wissen, was drinsteht.« Die Kellnerin kassierte. »Du wirst es wissen«, zwinkerte Kilian. Er bekam einen großen Briefumschlag, der Papier enthielt und dreitausend Schilling.
XII
Elf Uhr vormittags, Hochbetrieb im »Gambrinus«, einem »Branntweiner« im Arbeiterbezirk Wien 20, Sensengasse 11. Branntweiner ist für deutsche Leser schwer zu definieren. Eine Rumstube, könnte man sagen. Ein kleines Lokal, in dem Rum und ähnliches vorwiegend an Stammgäste ausgeschenkt wird, an Stammgäste, deren Hände gegen zehn zu flattern beginnen, und die dringend ein Mittel gegen dieses lästige Zittern und ihre Selbstmordgedanken brauchen. Die Stube ist voll von übriggebliebenen Zechern. Es sind meist ältere Menschen, Pensionisten, Gelegenheitsarbeiter, in letzter Zeit auch immer mehr Hausfrauen. Dicke Weiber mit Einkaufstaschen, die lautstark ihre Gründe für das Glas Rum an der Bar verkünden: Magenbeschwerden, geringer Blutdruck, Verkühlungen oder was auch immer. Sie wirken sehr überzeugend, und nach dem zweiten Glas glauben sie es selber und setzen ihre Einkäufe fort. In einer Ecke sitzt ein Pensionist und führt ein Selbstgespräch: »Ja, mei Suserl, mei Suserl. Immer warst ein braves Maderl. Immer brav, mein Suserl.« Wahrscheinlich seine Tochter. Dem Pensionisten rinnen Tränen über die Wangen. Der Teufel weiß, welche Probleme er mit seinem Suserl hat. Neben ihm sitzt Professor Dr. Dr. Erich Kilian. Wie ein Professor sieht er nicht aus, eher wie jemand, der die letzten zwei Wochen unter einer Donaubrücke geschlafen hat. Zwinker-Kilian denkt nach, man kann es sehen. Er ist wohl der einzige im Gambrinus, der denkt. Ein Denker in einer Rumstube. Ein Diogenes des zwanzigsten Jahrhunderts. Zwinker-Kilian zwinkert und trinkt. Die Wirtin bestätigt überzeugend einer fetten Fünfzigerin, daß ein Glas Rum am Vormittag das beste Mittel gegen niedrigen Blutdruck sei. Nur keine Pillen, die seien sehr schädlich. Es stellt sich heraus, daß des Pensionisten Tochter, das brave
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