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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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bestellen. Rotschädlerter Bethlehem-Bub! Das war Kilians Terminus für Jesus Christus. Rotschädlerter Bethlehem-Bub, blutiger, angenagelter, steig herunter von deinem Holzkreuz und hilf den Menschen, wenn du kannst. Nicht einmal dem versoffenen Pensionisten zu meiner Linken kannst du helfen! Der mit seiner Tochter, dem braven Mädel, der miesen Hure. Zum Teufel, zum Teufel mit allem! Kilian hätte gerne das Lokal zertrümmert, aber wie macht man das mit Armen, die so spindeldürr wie Kleiderbügel sind?
    »Ich bin doch kein Idiot«, murmelte er, »kein Idiot.« Mit dem Index und dem, was er die letzten Tage gelesen und übersetzt hatte, konnte er jede Summe verlangen. Jede Summe, das wußte er. Schließlich kannte er sich aus in der Branche. Alle Wünsche würden in Erfüllung gehen! Alle Wünsche! Welche?
    Kilian dachte an seine ausgemergelte Gestalt, an sein häßliches Gesicht mit der dicken Brille, und er wußte, daran war mit Geld auch nichts zu ändern. Nichts zu ändern, aber zu verbessern, immerhin. Er dachte an die vielen blonden Weiber, die immer durch ihn hindurchschauten, als ob er gar nicht existierte. Mit viel Geld waren auch blonde Frauen zu haben.
    Jesus, rotschädlerter Bethlehem-Bub, einmal eine blonde Frau haben, ist das zuviel verlangt in einem ganzen Männerleben?
    Er betrachtete es als gutes Vorzeichen, als der angetrenzte Pensionist mit seinem Suserl-Problem leicht schwankend das Lokal verließ. Und für solche Menschen sollte er Nächstenliebe empfinden? Seine Mutter, ja die hätte es gekonnt. Sie würde ihn auch jetzt verurteilen, wüßte sie, was er vorhatte. Aber sie war tot und überhaupt, zum Teufel mit seiner Mutter.
    Der Genosse Cohen, dieser arrogante Hund, hatte immer blonde Weiber um sich. Wieso eigentlich? Cohen hatte einen Bauch, war fett, und Frauen mögen keine fetten Männer. Wenn der Genosse Cohen ein Verräter war, dann mußte er viel Geld verdient haben.
    Jetzt also war er, Erich Kilian, an der Schüssel.
    Der Index mußte her!
    Das nächste, was Zwinker-Kilian machte, war ein freundliches Gesicht.
    Er übergab Bill ein dickes Paket von maschinengetippten Seiten, etwa die Hälfte des in Langschrift übersetzten Aktenkonvolutes. Es war die unwesentliche Hälfte. Mit dem Rest habe er Schwierigkeiten, erklärte der Professor freundlich. Wilhelm müsse auch verstehen, daß er, der Professor, zuerst die leichter verständlichen Teile übersetzt habe. Sozusagen aus dem Zusammenhang. Was die anderen Teilstücke beträfe, die seien so bespickt mit Codeziffern und Decknamen, meinte Kilian, und er sei sicher, daß in dem Archiv irgendwo ein Verzeichnis sein müsse, aus dem die Klarnamen ersichtlich würden. Dieses Verzeichnis würde seine Arbeit sehr erleichtern, zwinkerte Kilian, und zumindest in diesem Punkt meinte er es ehrlich.
    Dieses Gespräch fand statt im Kaffee Arlosch im dritten Wiener Gemeindebezirk am zwanzigsten Dezember 1975, einem Samstag. Bill überlegte. Er zeigte sich beeindruckt von den vielen enggetippten Seiten. Er müsse das Zeug zuerst lesen, meinte er. Wegen eines Verzeichnisses, das also vorhanden sein müsse, wolle er in Rossmaneks Nachlaß suchen. »Gib mir erst einmal eine Liste der Codewörter«, sagte er, »dann finde ich das Zeug leichter.« Kilian versprach es und fühlte sich als der Überlegene. Eine Einladung auf ein drittes Glas Wein lehnte er mannhaft ab. Die Chance seines Lebens würde er sich durch unangebrachtes Saufen mit Wilhelm nicht verderben.
    Einen zweiten Vorschuß könne er schon brauchen, ließ er durchblicken. Bill gab ihm tausend Schilling. Sie vereinbarten einen nächsten Treff in drei Tagen, zur selben Uhrzeit, am selben Ort. Sie versprachen sich gegenseitig, alles Erforderliche zu tun. Erich würde weiterübersetzen, Bill würde die Liste mit den Klarnamen suchen. Als sie sich verabschiedeten, klopften sie sich auf die Schultern und lachten.
    Einen Dreck werde ich arbeiten, dachte Zwinker-Kilian fast laut, als er in die Straßenbahn einstieg. Er hatte tausend Schilling in der Tasche und im Gehirn das Gefühl absoluter Überlegenheit über den Rest der Menschheit. Wenn er sparsam war, und das war er, konnte er drei Tage durchsaufen, ohne an Boden zu verlieren.
    Mein Schulfreund, du bist im Zugzwang, kicherte er, als er die Fahrkarte löste. Die Liste der Decknamen war eine Arbeit von fünfzig Minuten, mehr wollte er in diesen drei Tagen nicht tun. Er begann im Geiste ein Schachproblem zu analysieren, eine Endstellung Chernev gegen

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