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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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Schemel vor den Kasten, stieg darauf und holte die Schüssel umständlich herunter. Dann prüfte und betastete sie sorgfältig die Äpfel. Denjenigen, der schon Flecken vom langen Liegen hatte, oder der schon ein wenig runzlig war oder gar schon leicht angefault, wählte sie aus und gab ihn dem kleinen Willi. Denn man mußte sparsam haushalten und nichts verschwenden, und bevor etwas verrottete, mußte es gegessen werden. Das Resultat war, daß der kleine Willi das ganze Jahr über angefaulte Äpfel essen mußte. Der kleine Willi verstand das damals nicht recht, aber mit dem sicheren Instinkt des Kindes wußte er, daß protestieren zwecklos war.
    Als er Soldat werden mußte, mit siebzehn Jahren, Soldat der glorreichen großdeutschen Armee, verabschiedete er sich auch von seiner Großmutter. Äpfel gab es damals keine mehr. Wilhelm hatte Tränen befürchtet, aber dazu war es nicht gekommen. Die alte Frau wischte sich die Hände in die Schürze, zog ihm mit ihrem Daumen ein Kreuz über die Stirn, dann lachte sie. »Wenn’s gefährlich wird, Bub, dann renn’«, hatte sie gesagt. Wenn’s gefährlich wird, dann renn’ davon. Er wäre jetzt gerne davongerannt, noch weiter weg als bis Triest.
    Das Gefühl von Panik überkam ihn wieder, so wie damals zwischen seinem Kofferraum und dem Citroen. Er zwang sich zur Ruhe.
    Hier war er doch sicher, wer sollte ihn hier finden, am Stadtrand von Triest.
    Wenn es jemanden gab, der Gabelsberger-Russisch entziffern konnte, dann war es Erich Kilian, der doppelte Doktor, Professor und ehemalige Major der Roten Armee. Ob er noch lebte?
    Christa kam zurück mit Wein, Weißbrot, Käse und einem bunten Seidenschal, so bunt wie zwanzig Papageien. Sie fand den Schal »irrsinnig schick« und »wahnsinnig billig« und schnatterte ihm die Ohren voll. Sie aßen und tranken, und es wurde langsam dunkel. Ob Zwinker-Kilian noch lebte?
    Panische Angst hin und her, er mußte ja wieder zurück nach Wien. Er konnte es noch ein paar Tage verschieben, aber es blieb ihm nicht erspart. Wenn er Glück hatte, fand er Zwinker-Kilian. Er überlegte, was alles er Hammerlang sagen würde und was nicht. Der Schrebergarten, die Hütte, das ja. Das Archiv aber war seine Sache, das ging Hammerlang nichts an, zumindest vorläufig nicht. Worüber er denn immer nachgrüble, wollte Christa wissen. Sie könne es ganz genau erkennen, wenn er nachdenke, er bekäme dann tiefe Falten auf der Stirn, und seine Augen sähen dann »weit weg«.
    »Du sollst nicht mit vollem Munde reden«, grinste er. Aber er könne es ihr doch wirklich sagen, wenn er Sorgen habe und woran er immer denken müsse. Sie bohrte weiter. »An einen Gott«, sagte er, und seine Stirnfalten verschwanden. »An Gott Pan aus der griechischen Mythologie. Er war halb Bock und halb Mensch, weißt du, und spielte Flöte. Die alten Griechen fürchteten sich vor ihm. Er versetzte sie mit seinen Flötenmelodien in panische Angst. Unser Wort Panik kommt von dem griechischen Gott Pan.«
    »Du bist auch halb Bock, halb Mensch«, murrte Christa unzufrieden. Überhaupt erzähle er ihr gar nichts. Ein komischer Vogel, ja das sei er. Sie war böse. Bill versuchte, ihr die Hosen auszuziehen, aber sie war nicht einverstanden und immer noch böse. Auch noch eine halbe Stunde später. Bill spürte den Wein.
    Wer, Mädchen, glaubst du eigentlich, daß du bist? Die Königin von England, Miss World 1974 oder wer sonst? Nur weil ich jetzt was haben möchte von dir und du keine Lust hast, mußt du die Augen zumachen und gelangweilt schauen?
    Und wer gibt dir das Recht, einfach zu gähnen? Mir ist nicht zum Gähnen, im Gegenteil, also was glaubst du eigentlich? Keine Sorge, in zwei Minuten gähne ich auch. Nicht, daß er das etwa gesagt hätte! O nein, kein Wort sagte er. Es war alles nur gedacht, ganz leise gedacht. Er stand auf und schlüpfte in einen Bademantel. Tatsächlich: Sie riß die Augen auf. »Was ist«, sagte sie, »bist du beleidigt?« Das war er nun wirklich. »Keine Spur«, grinste er, »wie kommst du auf so was?«
    »Ich dachte …«, sagte das Mädchen.
    »Nicht denken, Schatz, nicht denken. Das ist nichts für hübsche, nur für große Köpfe.«
    Er ging auf den Balkon und schenkte sich noch ein Glas ein. Sie könnte meine Tochter sein, dachte er wieder. Also, sei gut zu ihr. Sie ist jung und dumm, einfach zu jung für dich. Deine Erwartungen sind schuld. So was! Sei gut zu ihr, und hör auf, Gefühle zu haben, das steht dir nicht mehr zu in deinem Alter.
    Kühl

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