Das Archiv
hatte lange keine Ahnung, was er eigentlich arbeitete. Ihr Chef war Oberst Wolkow, schon sechzig Jahre alt und gut wie ein Vater zu ihr. Ihre offizielle Arbeit war leicht, sie übersetzte ab und zu Schriftstücke aus dem Russischen ins Deutsche oder umgekehrt, und ihr Auftrag, den Wolkow »konspirative Operation« nannte, machte ihr mehr Spaß als Kopfzerbrechen.
Sie schlief mit Fedor, die erste Zeit ziemlich oft und intensiv, später ließ es dann nach.
Im Juni 1963 wurde in Stockholm ein schwedischer Armeeoberst wegen Spionage für die Sowjetunion verhaftet, Sonja las es in den österreichischen Zeitungen und wunderte sich, weil Fedor so nervös war und aus dem Code-Raum tagelang nicht mehr herauskam. Schließlich flog er nach Moskau und kam nicht wieder. Das nächste, was Sonja von ihm hörte, war seine Versetzung nach Stockholm. Er mußte dort einen Kollegen ablösen, der abberufen worden war. Doch in Wien blieb alles ruhig und das Leben schön. Zwei Jahre später ging ihre »konspirative Operation« zu Ende. Sie bedauerte es und auch Oberst Wolkow, als er ihr mitteilte, daß sie nach Moskau zurück müsse. Ihre Arbeit war getan.
Den Genossen Duderow und seine Abteilung gab es in Moskau nicht mehr. Alles war umorganisiert und neu für Sonja. Das Ministerium für Staatssicherheit hieß jetzt Komitee für Staatssicherheit, und die Abteilungen hießen Direktorate.
Sonja bekam einen Platz im Direktorat 4 und eine belobende Anerkennung für ihre Tätigkeit in Wien. Ihre Arbeit bestand wieder aus Übersetzungen, diesmal ins Deutsche. 1967 heiratete Sonja ihren Arbeitskollegen Valentin Pachomow, der unbedingt Kinder haben wollte. Sonja bekam keine, zwei Jahre später waren sie wieder geschieden, kurz bevor Valentin nach Montreal versetzt wurde. Sonja blieb die Wohnung, ihr gutbezahlter Posten und viel Langeweile, gemildert durch ihre Erinnerungen an Wien und die schönste Zeit ihres Lebens.
Am 3. November 1975, zwei Tage nach ihrem 39. Geburtstag, teilte ihr der Leiter des Referates 4 mit, daß sie wieder zur Botschaft Wien abkommandiert werde.
X
Sie hatten eine kleine Pension in Triest gefunden, sie waren die einzigen Gäste. Es roch im ganzen Haus nach Äpfeln und Gemütlichkeit, und vom Fenster aus hatte man den Blick auf das Meer. Die weite, bleigraue Wassermasse war in heftiger Bewegung, denn der Wind blies kräftig von Süden, aber es regnete nicht, und die Luft war warm. Mit Christa kam er gut zurecht. Die erste Zeit fragte sie nicht viel und war einen ganzen Tag lang fröhlich, wenn er ihr ein paar Schuhe oder einen Pulli gekauft hatte. Wenn er allein sein und nachdenken wollte, machte er ausgedehnte Spaziergänge. Mit seinem lädierten Knöchel ging es täglich besser. Oder er gab dem Mädel einen Geldschein und trug ihr auf, zwei Flaschen Chianti zu kaufen und der Rest wäre für sie. Dann zog sie glücklich los, und er hatte zwei, drei Stunden Zeit, sich mit Rossmaneks Archiv zu befassen.
Warum er ständig an seine Großmutter denken mußte, konnte er zunächst nicht herausfinden. Er versuchte, sich wieder auf die engbeschriebenen Stenogrammseiten zu konzentrieren.
Die Gabelsberger Stenografie stammte aus der Mitte des vorigen Jahrhunderts und bildete die Grundlage für die deutsche Einheitskurzschrift, die Wilhelm Weiss in der Schule gelernt hatte. Er müßte also doch wenigstens einen Sinn aus diesen Zeilen herausfinden, wenigstens einzelne Worte verstehen können. Aber nicht ein einziges Wort konnte er entziffern.
Er brauchte drei Tage, bis er herausfand, daß die Texte in russischer Sprache abgefaßt waren. Russisch geschrieben in Gabelsberger Stenografie, das konnte nur dem alten Rossmanek einfallen. Es gab eine Zeit, da konnte Bill die Prawda oder die Iswestija leidlich lesen, aber was er jetzt da vor sich hatte, überstieg seine Fähigkeiten bei weitem. Er war also im Besitz des Archivs, wie es Herbert gewollt hatte, konnte es aber nicht lesen, nicht entziffern. Und er bezweifelte, daß es auf der Welt viele Menschen gab, die dazu imstande waren.
Das änderte seine Situation beträchtlich. Es roch nach Äpfeln, und das mußte der Grund sein, warum er an seine Großmutter denken mußte. Seine alte Dame hatte immer eine große Schüssel herrlicher Äpfel auf dem Kleiderschrank im Schlafzimmer stehen. Wenn der kleine Willi zu Besuch war, artig ein Gedicht aufsagen konnte oder ein Gebet, bekam er einen Apfel zur Belohnung. Die Großmutter machte immer eine Zeremonie daraus, stellte einen
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