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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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Suserl, wegen Geheimprostitution drei Wochen sitzen muß. In Polizeiarrest, nicht etwa in einer Strafanstalt. Das ist schließlich ein Unterschied.
    Kilian denkt nach. In den letzten Tagen hat er zweihundert eng stenografierte DIN-A4-Seiten gelesen, analysiert und in Langschrift übertragen. Der Vorschuß von Willi Weiss war verbraucht, versoffen, aber Kilian machte sich keine Sorgen wegen des Geldes. Diese Arbeit hätte er auch umsonst gemacht, der Inhalt dieses Monster-Stenogrammes faszinierte ihn. Vieles war ihm jetzt klar. Vieles aber auch noch unklar. Seine Gedanken verwirrten ihn selbst, und rasch bestellte er ein neues Glas.
    Rossmanek. Er hatte von ihm gehört, früher. Heute hätte er von diesem Menschen gern mehr gewußt. Der alte Hofrat Rossmanek war zwanzig Jahre lang Chef der österreichischen Staatspolizei gewesen. Von 1948 bis 1968. Allerhand war passiert in diesen zwanzig Jahren. Für manches hatte Kilian nun eine Erklärung gefunden. Wesentliches aber blieb unklar. Wenn dieser alte Hund, die Würmer sollen ihn fressen, wenigstens die Klarnamen in seinen Aufzeichnungen vermerkt hätte. Aber er verwendete Codewörter und Ziffern. Wie sollte Kilian diese Personen identifizieren? Es mußte in diesem Archiv noch ein Verzeichnis geben. Einen Index von Decknamen und Klarnamen. Nicht einmal der alte Rossmanek mit seinem Elefanten-Gedächtnis konnte hundert Codewörter im Kopf haben. Ja, dieser Index mußte existieren. Kilian zwinkerte und seufzte: Das einzige Resultat seiner Denkarbeit.
    Wenn er nur diese lächerliche Melodie in seinem Gehirn abschalten könnte: »Es schmeckt der Branntwein, in jedem Land fein, auch an der Wolga und am Jemen …« An der Wolga und am Jemen!
    Cohen: Dr. Isaak Cohen, Generalsekretär der österreichsowjetischen Gesellschaft. Er war als Kind nach Moskau gekommen, 1934, nach dem Sozialistenputsch. Dort hatte er Mathematik studiert und war in Kuschnarenkowo politisch ausgebildet worden. 1945 kam er nach Wien, als Major der Roten Armee. Kilian kannte ihn gut, den Genossen Cohen.
    War es möglich, daß er ein Agent Rossmaneks war? Vieles deutete darauf hin.
    Kilian zwinkerte nun ununterbrochen, sein Nachbar mit seinem Suserl begann ihm auf die Nerven zu gehen. Die Melodie wurde stärker: »Mit Branntwein ist es wie mit Mann, da muß man auch nur dann und wann – eine kleine Probe nehmen.«
    Aus irgendeiner Operette. Aus welcher? Kilian bestellte noch ein Glas.
    Es mußte einen Weg geben, an Rossmaneks Index heranzukommen. Er mußte seinem Schulfreund diese Liste herauslocken. Zwinker-Kilian dachte nicht daran, brav eine Übersetzung des Monsterstenogramms an Wilhelm abzuliefern. Was erwartet dieser Idiot eigentlich? War er, Professor Dr. Dr. Kilian, ein Übersetzer gegen Zeilenhonorar? Schulfreund hin und her, ja, Wilhelm war ein guter Kamerad gewesen, damals, aber da waren sie schließlich fast noch Kinder.
    Und was heißt schon guter Kamerad! Wieso eigentlich? Nur weil er schneller rennen, höher springen, besser Fußball spielen konnte, war das etwa ein Verdienst? Im Schädel hatten sie alle mitsammen nichts. Der Schüler Kilian las Ovid und Livius fließend zu einer Zeit, als die großartigen Kameraden, wenn sie nicht gerade Fußball spielten, noch an Caesars De Bello Gallico herumstotterten. Erich löste mathematische Probleme fünf Minuten nach der Ansage des Professors und blickte gelangweilt die restlichen fünfzig Minuten, in denen die Sportprotze schwitzend und hilflos ihre Spatzenhirne strapazierten. Was war das für eine Welt, in der Körper fast alles und Geist so wenig bedeutete? Na, und hatte sich daran etwas geändert? Nichts. Die starken, schönen Sportlertypen hatten auch jetzt noch alles, was sie brauchten, engbrüstige Brillenträger dagegen waren nicht gefragt, auch nicht mit drei akademischen Titeln. Kilian haßte diese Welt. Eigentlich war das schon immer so. Deshalb war er wohl auch Kommunist geworden, wie sein Vater. Die Welt sollte besser werden! Ein Idiot war er gewesen.
    Er hätte seinen weinerlichen Nachbarn mit seinem Suserl umbringen können.
    Seine Mutter, ja, die war anders. Sie war eine echte Kommunistin. Oder Sozialistin. Immer hilfsbereit, immer für andere da, um zu helfen. Aber hatte nicht schon Jesus Christus die Nächstenliebe gepredigt? Was war seine Mutter dann eigentlich? Eine praktizierende Heilige mit Hammer und Sichel auf der Fahne statt dem Kreuz? Der Gedanke an seine Mutter ließ Zwinker-Erich das Glas Rum austrinken und ein neues

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