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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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ohne Bordelle. Wien hat den Gassenstrich, schon seit Kaisers Zeiten. Und seine Strichmädchen. Die wenigsten kennen heute noch den Ursprung dieses Wortes. In der Kaiserzeit waren die Sitten streng und die Gunstgewerblerinnen in bestimmte Straßen verbannt, dort wiederum hatte jede ihren bestimmten Rayon. Um Streitigkeiten zu vermeiden, markierte die Sittenpolizei diese Rayons mit Strichen am Gehsteig. Pipsi und Susi gingen damals also nur innerhalb dieser Striche am Gehsteig auf Kundenfang, eine Rayonsüberschreitung brachte Schwierigkeiten mit der Obrigkeit. »Die Dame geht auf den Strich«, sagen die Leute heute noch, wenn sie Hurerei vornehm ausdrücken wollen. Die gute alte Ordnung in der Monarchie aber haben sie vergessen.
    Der »Grüne Papagei« ist also kein Bordell, aber da die kaiserliche Rayonseinteilung der guten alten Zeit gelockert wurde, die Strich-zu-Strich-Regelung der allgemeinen Modernisierung zum Opfer fiel, ist der »Grüne Papagei« eines der vielen kleinen Lokale, in denen man »sich trifft«. Irgendwo muß man sich ja treffen. Und gleich daneben im Hotel »Zur Spinne« vermietet ein händeaufhaltender Nachtportier Zimmer für ein, zwei oder drei Stunden. Wenn der Gast unbedingt will, auch für eine ganze Nacht. Aber das kommt selten vor.
    Frau Sedlacek unterbrach sofort ihren Vortrag, als sie den Professor die Stiegen herunterkommen sah. Sie boxte das bunte Barmädchen in die Rippen, um ein Haar wäre dabei das Glas zu Boden gefallen. Sie hob beide Hände und rief hysterisch:
    »Professor, Professor, welch Glanz in meiner Hütte.« Man konnte in ihrem geschminkten Mund Goldplomben blinken sehen. »Eine Runde Sekt für alle aufs Haus.« Der Professor lächelte geschmeichelt. Er war ein dünnes Männchen mit dicker Brille, aber teuer angezogen. Er trug einen Veloursmantel mit Pelzkragen. Die beiden Huren pfiffen unverzüglich auf Tinos und den neueröffneten Frisierladen und schälten den Professor aus dem teuren Mantel. Wilma, das Barmädchen, entkorkte eine Flasche Sekt, und auch die beiden Zuhälter zeigten plötzlich zufriedene Gesichter. Der Professor war noch nie kleinlich gewesen im »Grünen Papagei.« Der so Gefeierte lächelte geschmeichelt und kletterte auf einen Barhocker. Die beiden Profis hatten flugs die Pelzmäntel ausgezogen und sich auf Tuchfühlung gesetzt. Der Sektkorken knallte. »Heute wird gefeiert, Kinder«, sagte der Professor. Er zwinkerte vergnügt und ununterbrochen. Tatsächlich, man mußte zweimal hinsehen, um Zwinker-Kilian wiederzuerkennen.
    Die größte Veränderung aber, die mit Zwinker-Erich in den letzten Wochen geschehen war, konnte man nicht von außen sehen.
    Als Genosse Erich Kilian, ehemals Dolmetscher und Offizier der Roten Armee und Träger des Leninordens am Roten Band, den an sich selbst adressierten Briefumschlag mit zittrigen Händen aufgerissen und die fünfzig blauen Scheine gesehen hatte, in dieser Sekunde war er ein anderer Mensch geworden.
    Der andere Mensch entwickelte Ideen und Energien, die man jenem alten, verkommenen Subjekt niemals zugetraut hätte. Nur: Trinken, ja, das tat der neue Mensch auch. Doch die Wirkung war eine andere. Die tagelangen, depressiven Zustände hatten ein Ende. Er war auf dem Wege, ein Erfolgsmensch zu werden. Einer jener Erfolgsmenschen, die er im Leben stets verachtet und gleichzeitig beneidet hatte. Er würde es ihnen zeigen. Macht und Geld würde er haben, viel, viel mehr Geld als diese fünfzig blauen Scheine, denn das war nur der Anfang.
    Herrisch winkte er seinen Sekt von der Bar, nickte der fetten Sedlacek zu und erhielt seinen doppelten Cognac. Napoleon VSOP, sie kannte ja seine Gewohnheiten. Musik wollte er hören, aber nicht diese nervtötende Popmusik, ordentliche Musik, klar! Die Sedlacek warf eine Münze in die Musikbox. Klar, alles für den Professor. Ein anspruchsvoller Kunde, aber einer, der ordentlich zahlte. Aus dem Lautsprecher ertönte Gildas Arie aus Rigoletto, Erich nickte der Sedlacek zu wie ein zufriedener Herrscher seinem Sklaven. Die beiden Zuhälter kamen zur Theke und fragten höflich, ob sie Gesellschaft leisten dürften. Sie waren wirklich höflich und sagten tatsächlich »Gesellschaft leisten«. Alle sahen Erich auf den Mund, er war der Boß, er hatte hier zu bestimmen. Zwei Gläser für meine Freunde hier, sagte er, und jeder zeigte Beifall und Zustimmung. Eine Zwiebelsuppe wollte Erich, wollte sonst noch jemand Zwiebelsuppe? Alle wollten, und die Sedlacek ging in die Küche. Dann

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