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Das Archiv

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Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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der Weisheit letzter Schluß: das Falsche wurde eliminiert, das Richtige konzentriert. Das weise Resultat ist gefunden. Es wird ins Parteiprogramm aufgenommen. Stimmt das Genossin, oder nicht?«
    Die Genossin witterte eine Falle und zögerte. »Es stimmt«, sagte sie schließlich. Und sie fände das auch ganz logisch und in Ordnung. »Natürlich simplifizierst du alles, du dummes Kapitalistenschwein.« Bill fand, daß es sein Recht sei, weiterhin zu simplifizieren. »Ich stelle also ein Thema auf«, sagte Bill, »hör zu: Biertrinker sind gute, gemütliche Menschen. These.
    Fußballspieler sind ebenfalls gute, wenn auch nicht immer gemütliche Menschen. Antithese.
    Biertrinkende Fußballer sind also ganz großartige Menschen. Synthese.«
    Sie lachte und schlug mit der flachen Hand auf die Tischplatte. Wein schwappte über, andere Gäste sahen auf. »Du Volltrottel«, sagte sie laut. »Früher warst du besser. Komm, noch was, etwas Politisches.« Er war jetzt richtig in Fahrt.
    »Preußen sind bekannt als stur befehlsgewohnte Stiefelabsatzknaller, ohne Sinn für Humor und Schönheiten des Lebens. These.
    Kommunisten sind finster blickende Doktrinäre mit geballten Arbeiterfäusten, sie verachten jeden, der am Tag nicht zehn Stunden robotet und nachher die Internationale singt. Antithese.
    Preußische Kommunisten also können nur Typen sein, finster blickend und absatzknallend, die sonntags mit Hammer und Sichel Spazierengehen und den nächsten Arbeitstag mit Sonderschicht zum Jahrestag der kubanischen Befreiung nicht erwarten können. Die Geschichte der DDR. Synthese.«
    Früher sei er besser gewesen, meinte sie. Außerdem sei er ein hoffnungsloser Zyniker und nicht ernst zu nehmen. »Was sagt die kommunistische Grundschule über Zyniker?« wollte er wissen.
    Das brachte sie wieder zu ganz ernsthaftem Nachdenken. »In der Sowjetunion gibt es keine Zyniker«, sagte sie schließlich.
    Bill lachte scheußlich laut, die Fliegen vom Plafond suchten andere Schlafstätten, die Gäste blickten indigniert, der Kellner kam mit der Rechnung und fragte, ob noch etwas gewünscht werde.
    »Komm, gehen wir ins Bett«, sagte er plötzlich, so wie früher. Sonja kicherte. »Zu dir oder zu mir?« So wie früher. »Zu dir, meine Bude ist voll von toten Fliegen.«
    Es war eine Kleinwohnung in der Reisnerstraße. Bill ging zuerst in die Küche und sah sich um, er fühlte sich plötzlich nüchtern. Trotzdem warf er seine Schuhe in eine Ecke, dann Rock und Hose. Im Kühlschrank fand er zwei Flaschen Wein, doch er rührte sie nicht an. Er suchte Sonja im Wohnzimmer, doch sie war nicht da. Sein Hemd fiel zu Boden und seine Krawatte, dann die Socken und die Unterwäsche. Er suchte ein Radio, aber es gab keines, auch keinen Fernseher. Überhaupt fand er die Wohnung ziemlich unpersönlich, nicht so, als ob sie seit zwei Jahren von derselben Person bewohnt würde. Wieder fragte er sich, ob ihm dies ohne Rossmaneks Notizbuch aufgefallen wäre. Sonja war im Schlafzimmer.
    Dort war es dunkel, und erwartungsgemäß spürte er ihre Hände an seinem Körper. Es erregte ihn wenig, plötzlich hatte er tausend Gedanken im Kopf. Er mußte an seinen toten Freund denken, an die Zeit, als er Sonja kennengelernt hatte und an den sonderbaren Zufall, daß sie jetzt wieder bei ihm war. An den alten Rossmanek, an seine Notizbücher, sogar an Joan in Brooklyn. Und jedes Thema für sich hätte ausgereicht, einen Mann in dieser Situation impotent zu machen. Dann hörte er sie auch noch flüstern: »Du bist alt geworden, Bill.«
    Er war alt geworden. Ihre streichelnden Hände interessierten ihn plötzlich nicht mehr. Er spürte das irrsinnige Verlangen, sich zu betrinken, und seine Gedanken glitten magisch zu den zwei Weinflaschen im Kühlschrank. Er war alt geworden, na und? Sollte er es bestreiten, sich schämen? Ein Mann ist so alt, wie er sich fühlt. Gut, er fühlte sich wie hundertzwanzig, aber das schloß nicht aus, daß er trinken wollte. Es stand jetzt nur zur Frage, ob er gleich aufstehen und zum Kühlschrank gehen oder noch ein wenig warten, auf ihre Gefühle Rücksicht nehmen sollte. Das zärtliche und so hoffnungslose Streicheln ihrer Hände hörte nicht auf und wurde jede Sekunde unangenehmer. Schließlich stand er auf.
    Das Geräusch des Entkorkens war wie ein Schuß, der ihn aufschrecken ließ. Er setzte sich an den kleinen Küchentisch, nackt wie er war, trank das Glas in einem Zuge leer und füllte es wieder. Die fast volle Flasche vor sich, fühlte

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