Das Archiv
soll ich mich nach all den Jahren erinnern, wann ich ein Eis gegessen habe«, protestierte Sonja, »das ist doch absurd.« Aber sie war plötzlich verunsichert. »Möglich ist das schon, Fedor«, meinte sie zögernd. »Ich ging oft Eis essen zu Pisani. Wolkow hätte nichts dagegen gehabt.«
»Tschort! Der Teufel soll ihn in der Luft zerreißen. Und dich dazu.« Oberst Kalinin klappte den Aktendeckel zu, schlug wütend mit der Faust auf das alte Papier. »Keinen Verstand, dieser Idiot. So was war Chef der Operation. Jetzt haben wir die Misere.«
Sonja blickte erschrocken. Fedor kochte vor Wut. Ihre Augen begegneten sich. »Na ja, Täubchen«, murrte er nach einer Weile, »du kannst nichts dafür, du warst nicht verantwortlich für die Operation.« Er drückte eine Zigarette aus, zündete die nächste an und begann, im Zimmer auf und ab zu gehen. Sonja konnte seine Erregung spüren. Sie hörte, wie er immer noch in sich hineinfluchte. »Ich versteh’ das alles nicht«, begann sie zögernd, »das ist doch alles lang vorbei.«
»Weil du keinen Verstand hast, Sonjuschka. Du bist doch sonst nicht so schwer von Begriff. Die Desinformatija hat jahrelang den Gegner irregeführt, in einer ganz bestimmten Sache. Ein wichtiger Kanal war deine Verbindung mit dem Doppel. Jetzt müssen wir damit rechnen, daß die Amischweine seit 1960 davon wußten. Das ändert die Situation total. Das hat Konsequenzen.« Kalinin blieb stehen. »Beim Satan, das hat fast unglaubliche Konsequenzen«, er stöhnte es fast. »Und alles nur, weil du blöde Gans ein Eis schlecken gehen mußt, anstatt sofort in die Botschaft zurückzukehren.« Es war ruhig im Zimmer, Fedor ging auf und ab und rauchte.
Einige Minuten vergingen. »Tut mir leid, Fedor«, Sonjas Stimme klang traurig.
»Wie kommst du mit Bill Weiss voran?« fragte der Oberst. »Ganz gut. Du hast ja meine Berichte gelesen. Ich bin sicher, er weiß nichts von den Dingen, die du mir sagst. Er ist auch ganz uninteressiert an einer neuen arbeitsmäßigen Verbindung. Ich sagte ihm, ich arbeite für den Chef der Wirtschaftsabteilung, aber er fragte nicht einmal nach seinem Namen. Er redete nur von der Vergangenheit und seinem toten Freund. Ich glaube, alles andere interessiert ihn nicht sonderlich.«
Zu Sonjas Erleichterung nickte Fedor fast zustimmend. »Das kann leicht sein«, meinte er nachdenklich, seine Stimme war wieder ruhig. »In Ordnung, Sonja, mach keinen Fehler. Du kannst jetzt gehen.«
Als der Oberst allein im Zimmer war, kickte er den Papierkorb durch den halben Raum und fluchte wieder. Dann drückte er auf einen Knopf der Sprechanlage, und Genosse Iwanow meldete sich.
»Was Neues mit Postfach neunhundertzwanzig?« fragte der Oberst. »Gemietet vor drei Wochen von Robert Siglitz, Meidlinger Hauptstraße sechsundfünfzig. Name und Adresse sind falsch«, krächzte es im Kasten. »Überwachen Sie das Postfach rund um die Uhr. Ich muß wissen, wer Siglitz ist. Und das bald?«
XXI
Im »Grünen Papagei« in Wiens erstem Bezirk gingen die Geschäfte nur flau. In dieser bitterkalten Jännernacht waren die Menschen von ihren Öfen kaum wegzubringen. Die Zeitungen schrieben vom kältesten Jänner seit dreißig Jahren. Die Straßen waren vom eisigen Wind leergefegt, und es hätte einen kaum überrascht, plötzlich einem Rudel Eisbären zu begegnen.
Nur zwei Huren waren im »Grünen Papagei«. Abgesehen von der Chefin und dem Barmädchen. Die beiden Profis standen an der Theke und tranken Glühwein, sie hatten ihre Pelzmäntel nicht ausgezogen. In einer Ecke saßen zwei Zuhälter beim Kartenspiel.
Die Chefin, Frau Sedlacek, eine fette Gulaschblonde undefinierbaren Alters, hielt einen Vortrag über die Unverschämtheit des Finanzamtes und unterstrich ihre Absicht, für 1974 einen Dreck nachzuzahlen. Es war eher ein Selbstgespräch, denn die beiden in den Pelzmänteln unterhielten sich miteinander über einen gewissen Tinos, der einen Friseurladen eröffnet hatte. Das Barmädchen putzte ein Glas, sie hauchte es immer wieder an und hielt es gegen das Licht, schon seit fünf Minuten. Sie sah aus wie ein Bauerntrampel, dem untalentierte Kosmetiker alle Farben der Welt ins Gesicht geschmiert hatten.
Der »Grüne Papagei« ist ein Kellerlokal. In guten Zeiten, etwa wenn der Bauernbund in Wien tagt oder die Gewerkschaft der Metallarbeiter oder in der internationalen Katholikenwoche, hat Frau Sedlacek keine Sorgen. Dabei ist der »Grüne Papagei« durchaus kein Puff. Wien ist eine Stadt
Weitere Kostenlose Bücher