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Das Archiv

Das Archiv

Titel: Das Archiv Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Leo Frank
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Fünfziggroschenstücke. »Vielen Dank, lieber Herr«, sagte der Alte. Die Tür ging wieder zu. Der Alte sah erneut in seinen kleinen Kalender, warf den Schilling ein und begann zu wählen. Miro sah Margarete Scherbler kommen. Sie ging rasch, wurde aber langsamer, je näher sie kam. Er warf die Zigarette weg.
    Der Alte schien fertig zu sein.
    Er setzte den Hut auf, steckte den Kalender ein, knöpfte den Mantel zu. »Vielen Dank, nochmals, lieber Herr«, sagte er, als er sich herausdrehte. »Bitte schön«, sagte der liebe Herr. Margarete Scherbler stand nun neben der Zelle. »Bitte nach Ihnen«, sagte Miro, er war wirklich sehr höflich. Der Alte kam nochmals zurück und klopfte gegen die Glasscheibe, gerade, als Margarete Scherbler im Telefonbuch blätterte. Das Brillenetui, er hatte es vergessen. Margarete Scherbler reichte es ihm hinaus. Der Alte kam ihr bekannt vor.
    Dieses Mal mußte Miro nicht so lange warten. Die dicke Dame in der Telefonzelle telefonierte nur ganz kurz. Er roch ihr Parfüm, als er, kurz nachdem sie herausgekommen war, die Telefonzelle betrat und begann, im Telefonbuch zu blättern. Dann hatte er es sehr eilig, zu einem Taxistand zu kommen.
    Alles, was er jetzt brauchte, waren ein ungestörter Platz und ein Taschenspiegel. Dann würde er erst einmal den Text auf dem Kohlepapier lesen. Auf das Geplapper von Margarete konnte er sich nicht unbedingt verlassen. Und wenn in dieser Schrebergartenhütte wirklich so was Wichtiges zu holen war, warum sollte er, Miro, nicht einmal aktiv werden. In Krisensituationen und bei Gefahr im Verzuge müsse ein guter Agent auch eigene Entschlüsse fassen können, hatte man ihn damals, während seiner Ausbildung, gelehrt. Miroslaw Slobodim hatte das Gefühl, dieser Augenblick sei jetzt gekommen. Eile war geboten, hatte der hohe Genosse aus Moskau gesagt. Es war jetzt 17 Uhr vorbei und wurde langsam dunkel.
    Es war 18 Uhr an diesem späten Jännertag und schon dunkel. Bill dachte an Erich Kilian, der nun sicher schon in der Schrebergartenhütte Rossmaneks war oder zumindest auf dem Weg dorthin. Er lächelte böse bei dem Gedanken, mit welchem Eifer Zwinker-Erich nun nach dem zweiten Notizbuch des alten Rossmanek suchen würde. Große Mühe und langes Herumstöbern waren nicht nötig: Das Notizbuch lag auf dem Tisch, wie vereinbart, schon seit gestern lag es dort, und Zwinker-Kilian wußte ja, wie es aussah. Schließlich hatte er den Zwilling. Armer Erich. Bill war sicher, daß nicht nur sein Schulfreund hinter dem Büchlein her war. Er dachte an Sonja und versuchte, sich ihren Bericht vorzustellen, den sie vermutlich noch gestern nacht mündlich und spätestens heute morgen schriftlich gemacht hatte. Für die Iwans war nun auch Eile geboten. So wie Bill seine alten Freunde einschätzte, beorderten sie ein ganzes Team erfahrener Leute in die armselige Schrebergartenhütte, nur um an dieses alte Notizbuch Rossmaneks zu kommen.
    Dieses alte Notizbuch! Angeblich der Schlüssel zu Rossmaneks Archiv. Angeblich so wichtig, daß Menschen dafür sterben mußten. Und vermutlich noch sterben würden. Und das doch so wertlos war, wie Bill wußte. Aber nur er wußte es. Ein feines Spielchen, das Herbert da eingefädelt hatte. Bill spielte es nun weiter, und die Frage nach dem WARUM wollte er sich gar nicht erst stellen. Äußerstenfalls machte er sich Vorwürfe, weil er so dumm gewesen war, so begriffsstutzig und so lange gebraucht hatte, Herberts Pläne zu durchschauen. Den Absichten seines Freundes Herbert Winkler, dessen Gedanken er früher schon erraten konnte, bevor sie Herbert fertiggedacht hatte. Sein alter Freund! Aber das war vor zehn Jahren gewesen, und Herbert war tot. Spätestens zu dem Zeitpunkt, als Bill die Gabelsbergerrussischen Stenogramme entdeckt hatte, hätte der Groschen fallen müssen. Herbert hatte das Zeug doch auch nicht lesen können. Hatte auch gar nicht versucht, die Schriften übersetzen zu lassen. Er hatte gewußt, warum. Hatte gewußt, daß der Wert des Archivs woanders lag. In einem Banksafe. Was für ein Idiot war er, Bill, doch gewesen. Wo war sein Verstand geblieben, in Brooklyn, in »Jacks Pizzahouse«?
    Achtzehn Uhr. Sie werden es nun eilig haben, dieses lächerliche Notizbuch zu kriegen. Die Iwans und der arme alte Zwinker-Erich. Bill hatte es nicht eilig. Er saß in einem Gasthaus und trank sein zweites Bier. Der alte Opel 1700 war vor dem Lokal vorschriftmäßig geparkt. Sein Testament und seine Abschiedsbriefe lagen mit den ärztlichen

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