Das Areal: Thriller (German Edition)
Lautsprecherdurchsagen an, redet er immer noch davon, dass wir uns vom Rest des Areals fernhalten müssen. Die sollen Angst vor uns haben, und wenn sie die haben, dann kapieren sie nicht, was hier abgeht. Ich war von Anfang an dabei. Ich hab das gemacht.« Er deutete auf das bizarre, tropfende Leitungsgewirr an der Decke. Stellenweise liefen die Rohre auch am Boden entlang. Kupfer, das Grünspan angesetzt hatte, verrottetes Plastik und nackte Metallrohre. Alle Rohre unterschiedlich dick und aus unterschiedlichen Materialien. Zwischen den Tropfrohren und Rostleitungen verlief ein ähnlich vielfältiges Gewirr von Kabeln, die den illegal abgezapften Strom verteilten.
»D eshalb nennt man dich also Piper. Du bist der Röhrenmann.«
»D er Piper, genau«, sagte er. »H ab das alles installiert, nicht ganz allein, aber ich war dabei. Hab ausgeknobelt, wie man die städtische Hauptleitung anzapfen kann. Wie man Wasser aus dem Boden holt. Hat Jahre gedauert, das alles so hinzukriegen. Ganz am Anfang mussten die Leute mit Eimern und Kannen in den Keller gehen. Mussten das Zeug von Hand hochschleppen. Bis wir die Rohre installiert hatten. Stell dir das mal vor, alles Wasser, was du brauchst, bis hier raufzuschleppen.«
»E ine Mordsplackerei.«
»J etzt sterbe ich, und die Leute sagen, die Rohre lecken. Sie beklagen sich über die Lecks. Die hör ich ständig. Tropf-tropf-tropf. Sie sagen nichts, weil sie nicht sprechen können. Können nicht über den Tower schimpfen.«
»W oher kommst du?«
»W as?«
»W o du gelebt hast, bevor du zum Tower gekommen bist.«
Piper zog sich auf die nächste Etage hoch und wartete, bis Turner die Leiter erklommen hatte. Er überlegte. »W eiß ich nicht mehr«, sagte er. »I ch erinnere mich an gar nichts mehr. Ich war immer Piper. Werd als Piper sterben. Entweder an Lungenversagen oder von der Hand eines Fremden. Ha! Noch zwei Etagen«, fügte er hinzu, »d ann haben wir die Wohnungen hinter uns. Dann wird’s speziell. Sehr speziell.«
»W eshalb bleiben die Leute hier? Wenn es so schlimm ist …«
»D raußen ist es schlimmer. Jedenfalls sagt das Sorrow. Die Stärke liegt in der Überzahl, die Sicherheit im Bekannten. Alle Teil derselben Gruppe, desselben Stamms, desselben Organismus. Wir sind der Tower.«
»U nd ihr dient Sorrow.«
»J eder, der aussteigen will, wird zur Abschreckung an die Wand genagelt. In Einzelteilen. Oder bei lebendigem Leib. Viele Leute wollen beweisen, wie loyal sie sind, schließen Freundschaften nach oben. Schwärzen einen an, und schon ist man dran. Bei Abweichlern versteht Sorrow keinen Spaß.« Er schüttelte den Kopf. »M anchmal ändert sich die Ordnung. Da wird jemand hingerichtet, weil er sich geweigert hat, etwas zu tun, wofür tags zuvor jemand anders hingerichtet wurde, und zwar nur deshalb, weil sich in der Zwischenzeit die Regeln geändert haben, ohne dass er’s mitgekriegt hat. Ha! Schwer zu kapieren, große Verunsicherung, große Angst. Keiner blickt durch.«
Unterwegs waren sie mehreren Leuten begegnet, die in dem warmen Halbdunkel ihren Geschäften nachgingen, einige in Gruppen, andere allein, doch nun hob Piper warnend die Hand. Der alte Mann zog ihn in einen Eingang hinein und zeigte in den Flur. Turner spähte ins Halbdunkel.
Am Rande seines Gesichtsfelds, dort, wo zwischen den Lichtinseln der vereinzelten Glühbirnen tiefe Dunkelheit herrschte, sah er zwei Gestalten. Einen Mann und eine Frau in grauen Overalls, die wie Patchwork-Puppen aus unterschiedlicher Plastikfolie zusammengenäht waren. Ihre Köpfe wurden vollständig von Atemmasken bedeckt, beide in gleicher Farbe und selbst gebaut, mit einem runden Sichtloch an der Vorderseite. Wortlos betrachteten sie den Leichnam eines toten Mitbewohners; wahrscheinlich ein Junkie wie der, den Turner weiter unten gesehen hatte. Sie betasteten und untersuchten den Toten mit geradezu zärtlicher Anmut.
»S ammler«, murmelte Piper.
Als die beiden Sammler die Untersuchung beendet hatten, wandten sie sich zu einem Handwagen um und zogen eine dicke, schmutzige gefaltete Folie und nach längerem Überlegen eine Kreissäge heraus. Der eine legte die Folie über den Toten und packte ihn sorgfältig darin ein, während der andere das Schneidwerkzeug einschaltete. Ein durchdringendes Heulen war zu hören. Turner beobachtete gebannt, wie die beiden den Leichnam systematisch zerteilten, die einzelnen Stücke in den Wagen legten und dann ihre Ausrüstung wieder verstauten, worauf sie sich
Weitere Kostenlose Bücher