Das Areal: Thriller (German Edition)
vergewisserten, dass sie auch nichts vergessen hatten. Soweit er das erkennen konnte, wechselten die beiden während der ganzen Aktion kein einziges Wort. Dann klappte die Frau die Handgriffe hoch und schob den Wagen weg. Der Mann folgte ihr. Das Quietschen der Räder wurde leiser, entschwand in der Dunkelheit.
Piper nickte vor sich hin und trat aus ihrem Versteck. »D ie Sammler lassen sich nicht gern bei der Arbeit stören«, sagte er. »K ann übel ausgehen, wenn man denen in die Quere kommt. Sehr übel. Was Genaues weiß man nicht, aber es gibt Gerede. Eine Menge Gerede.«
Sie gingen an den großen roten Flecken vorbei, die das seltsame Pärchen zurückgelassen hatte. Es roch nach erhitztem Metall und geronnenem Blut. »W arum tun sie das?«
»D ie Toten müssen entsorgt werden. Wir können hier nur wenig anbauen, das meiste schleppen wir heran. Kaufen es. Das ist nicht leicht. Im Tower leben viele Menschen, es gibt viele Geburten und viele Todesfälle. Sorrow teilt die Ernte der Sammler mit allen Bewohnern des Towers. Jeder kriegt seinen Anteil.«
Turner bemühte sich, den Alten nicht anzustarren.
»D as ist der letzte Dienst«, erklärte er. »D er letzte Beitrag zum Wohle der Gemeinschaft. Selbst die Toten dienen noch den Lebenden. Bald wird man mich so in Stücke sägen.«
Piper verstummte. Sie ließen den Wohnbereich hinter sich und konzentrierten sich wieder auf den Weg, hielten Ausschau nach Gefahren. Die Nebenverbindungen zwischen den Etagen wurden seltener, und sie waren mehrfach gezwungen, das große Treppenhaus zu benutzen. Wenn sie das taten, drängte Piper Turner zur Eile und forderte ihn auf, leise zu sein. Dann durchquerten sie eine Etage, wo man die Wände teilweise eingerissen hatte, um Platz für einen Flohmarkt zu schaffen. Gehandelt wurden ärmliche Habseligkeiten und verschiedene Waren. Vorbei an Reihen von winzigen Verschlägen, die an Gefängniszellen erinnerten. Die Wände bestanden aus Pappe und epoxidverstärktem Papier. Ein Labyrinth von Gängen, erhellt von summenden Neonröhren und erfüllt von gedämpftem Geschrei. Je höher sie kamen, desto mehr glich der Tower einem Insektenbau. Sie versteckten sich vor Sorrows Leuten auf einer Etage, wo es nach Bleichmittel, beißendem Rauch und Lösungsmittel stank. Hier hatte man die Apartments zu größeren Wohneinheiten verbunden. Dann umgingen sie zwei Etagen, die von lauten Unterhaltungen und Musik widerhallten. Barsche, aggressive Stimmen und brüllendes Gelächter. Ein oder zwei Etagen weiter oben unterhielten sich Wachposten. Sie waren dem Ziel jetzt ganz nahe. Durch Dunkelheit und den Gestank von Schimmel und Verwesung, dann durch ein Loch ohne Leiter, das anscheinend seit Monaten niemand mehr benutzt hatte. Hinein in einen mit feuchtem Dreck verschmutzten Wartungsraum, dann hörten sie das gedämpfte Greinen von Säuglingen.
»D ie Geburtssäle«, sagte Piper mit einem Anflug von Traurigkeit. »D ie Kinder gehören alle dem Tower. Sie sind Teil der Gemeinschaft. Jedes Jahr kommen hunderte zur Welt. Hier und in den umliegenden Etagen werden sie großgezogen. Ich hatte auch mal ein Kind, vor vielen Jahren. Hab nicht mal gewusst, ob es ein Junge oder ein Mädchen geworden ist. Hab’s vielleicht schon hundertmal gesehen, ohne zu wissen, dass es mein Kind ist.«
Turner war übel. Er spähte durch einen Türspalt. Sah in Reihen angeordnete Kinderbettchen mit Säuglingen bis zu einem Alter von mehreren Monaten. Dazwischen wuselten Frauen umher, welche die Kinder stillten, die prallvollen Brüste entblößt. Die Wände waren mit Parolen bedeckt, und ein Lautsprecher in der Ecke gab Sorrows Sprüche wieder.
»D urch die gegenüberliegende Tür«, sagte Piper. »I ch warte hier auf dich. Die Tür trennt die Geburtssäle vom Rest des Towers. Du musst zur nächsten Etage hoch. Wenn du aus dem Treppenhaus kommst, wendest du dich nach rechts. Eine große Tür, kannst sie nicht verfehlen. Gibt keinen anderen Zugang, aber inzwischen bist du an den meisten Wächtern vorbei. Sei trotzdem vorsichtig. Das sind die Etagen von Sorrow, diesem Drecksack. Von ihm und seinen Leuten.«
»V ermutlich werde ich es auf dem Rückweg ziemlich eilig haben«, sagte Turner.
48
A uf die Flügeltür hatte man die Parole STÄRKE gesprüht. Auf der anderen Seite lautete sie LOYALITÄT . Ein von Neonröhren bläulich weiß erhellter Gang, die alten Zwischenwände hatte man herausgerissen und durch Fasergipsplatten ersetzt. Auf die Flügeltür am anderen Ende des
Weitere Kostenlose Bücher