Das Atmen der Bestie (German Edition)
sie nicht sonderlich beachtet, aber jetzt sah ich, dass das Frauengesicht ziemlich hübsch war, friedlich und gefasst, mit geschlossenen Augen.
»Das ist wirklich eine außergewöhnliche Skulptur.«
Wallis war noch damit beschäftigt, die Tür zu verriegeln. Er wirkte heute Abend älter und steifer in seiner ausgebeulten grauen Hose und der weiten grauen Strickjacke, deren Ärmel er hochgekrempelt hatte. Er roch nach Whisky.
Er beobachtete, wie ich mit der Hand über den Bronzerücken des Bären strich.
»Ich habe sie gefunden«, sagte er. »Schon vor einigen Jahren, als ich drüben in Fremont arbeitete. Wir haben eine Verkehrsbrücke für den Park gebaut und dabei haben wir sie ausgegraben. Seitdem habe ich sie immer bei mir gehabt. Sie gehörte nicht mit zum Haus.«
»Dan Marchin hat heute Morgen davon geträumt«, erzählte ich.
»Wirklich? Ich kann mir keinen Grund vorstellen, warum er von ihr träumen sollte. Es ist doch nur eine alte Skulptur. Ich weiß nicht mal, wie alt sie ist. Was würden Sie schätzen? 100 Jahre, 200 Jahre?«
Ich sah mir das demütige Gesicht der Bärenfrau näher an. Ich weiß nicht, weshalb, aber der Gedanke an einen Bären mit dem Gesicht einer Frau gab mir ein unangenehmes, gruseliges Gefühl. Ich vermute, es lag ganz einfach an der gesamten Atmosphäre in Wallis’ Haus. Aber wer hatte eine solch seltsame Figur geschaffen? Was sollte sie ausdrücken? Hatte sie eine symbolische Bedeutung? Zumindest war es sicher, dass sie nicht nach einem lebenden Modell modelliert worden war – das hoffte ich jedenfalls.
Ich schüttelte den Kopf. »Ich bin kein Experte. Ich kenne mich nur im Gesundheitswesen aus.«
»Kommt Ihr Freund auch? Der Ingenieur?«, fragte Wallis, während er mich in sein Büro führte.
»Er hat es gesagt. Außerdem kommen noch ein Arzt, wenn Sie nichts dagegen haben, und eine Bekannte von mir, die einen auf esoterische Literatur spezialisierten Buchladen in Brannan führt.«
»Ein Arzt?«
»Ja, es ist der, der Dan behandelt. Wir hatten heute einen kleinen Zwischenfall.«
Wallis ging zu seinem Schreibtisch hinüber und schenkte mit zitternder Hand zwei volle Gläser Scotch ein. »Zwischenfall?«, fragte er, den Rücken mir zugewandt.
»Es ist schwer zu beschreiben. Aber ich habe das Gefühl, dass das, was auch immer wir vergangene Nacht hier hörten, Dan sehr aufgeregt hat. Er hat sogar so ähnlich geatmet. Der Arzt glaubte zuerst, dass Dan Asthma hätte.«
Wallis drehte sich um, in jeder Hand ein Glas, gefüllt mit bernsteinfarbenem Scotch. Sein Gesicht sah in dem grünen Schattenlicht der Schreibtischlampe angespannt und geradezu gespenstisch aus. »Wollen Sie mir damit sagen, dass Ihr Freund genauso geatmet hat, wie das Atmen sich hier im Haus anhört?«
Er war so aufgeregt, dass ich ganz verlegen wurde. »Ja, genau das. Dr. Jarvis dachte, dass es vielleicht psychosomatische Gründe habe. Sie wissen, selbst verursacht. Das passiert hin und wieder nach einer schweren Gehirnerschütterung.«
Seymour Wallis gab mir den Whisky und setzte sich dann. Er sah so perplex und nachdenklich aus, dass ich mir die Frage nicht verkneifen konnte: »Was ist los? Sie sehen aus, als hätten Sie einen Dollar verloren und dafür einen Nickel gefunden.«
»Es ist das Atmen«, sagte er. »Es hat aufgehört. «
»Aufgehört? Woher wissen Sie das?«
»Ich weiß es nicht. Nicht genau. Nicht sicher. Aber ich habe es gestern Nacht nicht mehr gehört und auch heute noch nicht. Außerdem spüre ich, dass es vorbei ist.«
Ich setzte mich auf eine Ecke des Schreibtisches und nippte an meinen Whisky. Der Whisky war neun Jahre alt und schmeckte reif und mild, aber er passte nicht so besonders gut zu meinem halb verdauten Salatsandwich. Ich hätte besser etwas Solides essen sollen, bevor ich auf Gespensterjagd ging. Ich rülpste leise in meine Faust, während Wallis unruhig auf seinem Stuhl hin und her rutschte. Er sah noch unglücklicher aus.
»Glauben Sie, dass das Atmen sich irgendwie aus dem Haus auf Dan übertragen hat?«, fragte ich.
Er schaute nicht auf, zuckte nur die Achseln und wurde noch unruhiger. »So etwas schleicht sich in die Gedanken hinein, ist doch so, oder? Ich meine, wenn Geister tatsächlich in der Lage sind, einen Ort heimzusuchen, warum sollen sie dann nicht auch eine Person heimsuchen können? Wer kann denn schon beurteilen, was sie können und was sie nicht können? Ich weiß es nicht, Mr. Hyatt. Die ganze verdammte Angelegenheit ist mir ein Rätsel – und
Weitere Kostenlose Bücher