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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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Pritsche und hinaus auf den Gang, und zwar so schnell, daß er auch jetzt seine Zellengenossin nicht sehen konnte. Überall standen wieder Deutsche und Polizisten. Ein SS-Mann mit dem Totenkopf an der Mütze und silbernen Sternen und Litzen auf dem Kragen warf die Zellentür zu. Er war ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, ein gutaussehender Mann mit einem ebenmäßigen, edlen Gesicht, wie es Anton auf den Zeichnungen in seinen Abenteuerbüchern gesehen hatte.
    So einen Jungen einzusperren, schrie der SS-Mann, während er die Treppe hinaufging, ausgerechnet bei der Terroristin! Ob sie denn alle den Verstand verloren hätten? Das verfluchte Kommunistenweib gehöre übrigens auch nicht hierher, die nehme er mit nach Amsterdam, in sein Büro in der EuterpeStraße. Die Herren könnten froh sein, daß sie noch nicht befreit worden sei, denn dann wären hier ein paar Beamte nicht mehr am Leben! Was sei das hier für eine Schweinerei! Und wer das alles angeordnet habe? Jemand vom Sicherheitsdienst? Ach so! Et tu Brute! Der wolle sich hier in Heemstede wohl einen Persilschein beschaffen, um nach dem Krieg den Weihnachtsmann spielen zu können, als großer Freund des Widerstandes. Das werde sicher die Gestapo interessieren. Der Junge könne froh sein, daß er noch lebe. Wie denn das Blut auf sein Gesicht käme?
    Anton stand wieder im Wachlokal und sah einen behandschuhten Zeigefinger auf sein Gesicht deuten. Blut? Er befühlte seine Wangen. Ein Polizist deutete auf einen runden Rasierspiegel, der an einem Stahlbügel an der Wand hing. Anton stellte sich auf die Zehenspitzen und sah in dem vergrößernden Spiegel eingetrocknete Blutspuren in Gesicht und Haaren.
    »Das ist nicht von mir.«
    Dann sei es also von ihr, rief der Offizier. Auch das noch! Sie sei verwundet, man müsse sofort einen Arzt holen, er brauche sie noch. Was den Jungen angehe, für heute nacht ab zur Ortskommandantur mit ihm, und morgen bei der Familie abliefern. Und zwar schnell, ein bißchen ruck-zuck, halbvertrottelte Käseköppe, die sie seien. Kein Wunder, daß alle naselang einer abgeknallt würde. Oberinspektor Ploeg! Im Dunkeln ein bißchen radfahren, der Vollidiot!
    In eine Stalldecke gehüllt, wurde Anton von einem Deutschen nach draußen geführt, wo ihn wieder die kristallklare Nacht empfing. Vor der Tür stand mit aufklappbarem Verdeck und gewaltigen Kompressoren an der Motorhaube ein Mercedes, der zweifellos dem Offizier gehörte.
    Der Deutsche hatte einen Karabiner auf dem Rücken; die Schöße seines langen dunkelgrünen Mantels hatte er um die Beine gebunden und ging deshalb plump und breitbeinig wie ein Bär. Anton mußte sich hinter ihn auf ein Motorrad setzen und an ihm festhalten. Er wickelte sich in die Decke ein, klammerte die Arme um die riesenhaften Schultern und preßte den Oberkörper an den Rücken mit dem Gewehr.
    Rutschend und in Schlangenlinien fuhren sie unter den Sternen durch die verlassenen Straßen nach Haarlem. Die Fahrt dauerte kaum zehn Minuten. Der Schnee knirschte unter den Reifen, und es schien, als könnte nicht einmal das Knattern des Motors die Stille durchbrechen. Zum ersten Mal in seinem Leben saß Anton auf einem Motorrad. Trotz der Kälte mußte er sich zusammenreißen, um nicht sofort wieder einzuschlafen. Die Nacht war hell und dunkel zugleich. Der Nacken des Deutschen dicht vor seinen Augen: ein Hautstreifen mit kurzen, dunklen Haaren zwischen dem Gummi der Jacke und dem Stahl des Helmes. Anton erinnerte sich an ein Erlebnis vor einem Jahr im Schwimmbad. Das Bad mußte zu einer bestimmten Zeit für die Wehrmacht freigemacht werden, er hatte jedoch so lange in seiner Kabine herumgetrödelt, bis es zu spät war. Er hatte die Kolonne kommen hören, mit Gesang und stampfenden Stiefeln. Hei-li-hei-lo-heila! Wenig später stürmten die Soldaten lärmend in den stillen Raum, trampelten, lachten, brüllten. Er hörte kein Schlagen der Kabinentüren, sie zogen sich also im Gemeinschaftsraum aus. Eine Minute später platschten ihre nackten Füße in Richtung Schwimmbecken. Als es wieder still war, traute er sich aus seiner Kabine. Am Ende des Kabinenganges, hinter der Glastür, sah er sie dann. Plötzlich waren sie auf unbegreifliche Weise zu Menschen geworden, zu ganz normalen Männern, mit nackten, weißen Körpern, mit braunen Gesichtern und Nacken und mit Armen, die ungefähr vom Ellenbogen abwärts braun wurden. Er sah zu, daß er wegkam. Im Umkleideraum, der sonst nur von armen Leuten benutzt wurde, hingen die

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