Das Attentat
verlassenen Uniformen, die Feldmützen, die Koppel, die Stiefel. Diese Drohung, diese gewalttätige Ruhe… Mit der Bewegung von Schlaftrunkenen, die sich aufrichten, mit einem schwerelosen Schweben lösen sich die Uniformen von ihrem Platz und gehen zu einem brennenden Reisigstapel… hohe Flammen… dicht unter dem hölzernen Vordach eines weißen Landhauses… doch zum Glück ist alles unter Wasser, in einem Kanal oder in einem Schwimmbad… zischend verlöschen die Flammen…
Er schrak auf. Sie hielten im Stadtpark, vor der Durchfahrt durch die Panzersperre, die rund um die Ortskommandantur errichtet war. Überall Stacheldraht. Ein Posten ließ sie passieren.
Trotz der Dunkelheit herrschte im Hof reger Verkehr, immer neue Lastwagen und Autos kamen und fuhren, im geschwärzten Glas ihrer Scheinwerfer waren schmale waagerechte Lichtschlitze frei gelassen, über denen kleine Blenden angebracht waren. Der Lärm der Motoren und Hupen und das Geschrei standen in geheimnisvollem Gegensatz zu der Vorsicht, die dem Licht galt.
Der Soldat stellte sein Motorrad auf den Ständer und nahm Anton mit nach drinnen. Auch dort war der Betrieb noch in vollem Gange, Soldaten liefen hin und her, Telefone klingelten und Schreibmaschinen klapperten. Anton mußte in einem kleinen, warmen Nebenzimmer auf einer Holzbank warten. Durch die offenstehende Tür konnte er einen Gang in seiner vollen Länge überblicken – und sah plötzlich Herrn Korteweg. Mit einem Soldaten, der keine Dienstmütze trug und irgendwelche Papiere unter dem Arm hatte, kam er aus einer Tür, überquerte den Gang und verschwand hinter der gegenüberliegenden Tür. Sicher wußten die Deutschen schon, was er getan hatte. Bei dem Gedanken, daß also wohl auch seine Eltern hier waren, gähnte Anton, er lehnte sich zur Seite und schlief ein.
Als er wach wurde, sah er in die Augen eines älteren Feldwebels, der eine viel zu große Uniform und zu weite Schaftstiefel trug und ihm freundlich zunickte. Er lag in einem anderen Zimmer unter einer Wolldecke auf einem roten Sofa. Draußen war es hell. Er erwiderte das Lächeln. Der Satz ›Unser Haus steht nicht mehr‹ kam ihm kurz zu Bewußtsein, verschwand aber sofort wieder. Der Feldwebel zog einen Stuhl heran und stellte darauf einen Emaillebecher mit warmer Milch und einen Teller mit drei großen, ellipsenförmigen, dunkelbraunen Scheiben Brot, die mit etwas Mattglänzendem beschmiert waren – Jahre später, als er auf dem Weg zu seinem Haus in der Toskana durch Deutschland fuhr, sah er zufällig, daß dieses Mattglänzende Gänsefett war: Schmalz. Nie wieder würde etwas so schmecken wie damals diese Brote, auch nicht die teuersten Diners in den besten Restaurants der Welt, bei Bocuse in Lyon, bei Lasserre in Paris, die er auf der Rückreise besucht hatte, und ebensowenig konnte es der köstlichste Lafite-Rothschild oder Chambertin mit der warmen Milch von damals aufnehmen. Wer nie Hunger gehabt hat, ist bei Tisch der bessere Genießer, aber was essen wirklich heißt, weiß er nicht.
»Das schmeckt, was?« sagte der Feldwebel.
Nachdem er einen zweiten Becher Milch geholt und amüsiert zugesehen hatte, wie auch der weggeputzt wurde, mußte sich Anton unter einem kleinen Wasserhahn in der Toilette waschen. Im Spiegel sah er, daß die Blutstreifen in seinem Gesicht rostbraun geworden waren; zögernd, Millimeter für Millimeter, entfernte er das einzige, was er von ihr besaß. Danach legte ihm der Feldwebel den Arm um die Schultern und brachte ihn zum Zimmer des Ortskommandanten. Auf der Schwelle blieb Anton unsicher stehen, aber der Feldwebel machte ihm ein Zeichen, daß er sich in den Lehnstuhl vor dem Schreibtisch setzen sollte.
Der Ortskommandant, der militärische Befehlshaber der Stadt, telefonierte gerade, er schaute kurz zu ihm herüber, sah ihn dabei zwar nicht richtig an, nickte ihm aber beruhigend und väterlich zu. Ein kleiner, dicker Mann mit kurzgeschorenem, weißem Haar, in der grauen Uniform der Wehrmacht; auf der Schreibtischplatte sein Koppel mit der Pistole und seine Mütze, daneben vier gerahmte Bilder, von denen Anton nur die Rückseite mit der ausgeklappten, dreieckigen Stütze sah. An der Wand gegenüber hing ein Portrait von Hitler. Anton schaute aus dem Fenster auf die kahlen, bereiften Bäume, die ungerührt dastanden und vom Krieg nichts wußten. Der Ortskommandant legte den Hörer auf, machte sich eine Notiz, schaute in einige Mappen, legte dann die Hände übereinander auf das Löschblatt
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