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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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auswendig und tastete mich mit den Händen an Mauern und Zäunen entlang nach Hause. Ich konnte überhaupt nichts sehen, es war, als hätte ich keine Augen. Um kein Geräusch zu machen, hatte ich die Schuhe ausgezogen, ich konnte wirklich absolut nichts sehen, aber ich wußte immer ganz genau, wo ich war. Jedenfalls dachte ich das. In meiner Erinnerung sah ich alles vor mir, ich bin den Weg hundert- oder vielleicht sogar tausendmal gegangen, ich kannte jede Ecke, jeden Baum, jeden Bordstein – alles. Und auf einmal war alles weg. Nichts stimmte mehr. Ich stieß auf einen Strauch, wo ich eine Fensterbank erwartet hatte, und auf einen Laternenpfahl, wo eine Garageneinfahrt hätte sein müssen. Ich machte noch ein paar Schritte, und dann ertastete ich nichts mehr. Ich stand noch auf Pflastersteinen, aber ich wußte, daß ganz in der Nähe ein Graben sein mußte, und hatte Angst, mit dem nächsten Schritt hineinzufallen. Ich bin also eine Weile auf Händen und Füßen herumgekrochen, hatte auch keine Streichhölzer und keinen Taschendynamo bei mir. Zum Schluß habe ich mich hingesetzt und gewartet, bis es hell wurde. Du kannst dir vorstellen, daß ich mir langsam so vorkam, als wäre ich der einzige Mensch auf der Welt.«
    »Hast du geweint?« fragte Anton atemlos. Ihm kam es so vor, als könnte er hier in der Dunkelheit sehen, was in der Dunkelheit damals nicht zu sehen war.
    »Das gerade nicht«, sagte sie lachend. »Aber ich hatte ganz schön Angst, ja. Vielleicht noch mehr wegen der Stille als wegen der Dunkelheit. Ich wußte, daß die ganze Gegend voller Menschen war, aber es war alles verschwunden. Die Welt hörte bei meiner Haut auf. Meine Angst hatte nichts mehr mit dem Krieg zu tun. Außerdem habe ich ziemlich gefroren.«
    »Und dann?«
    »Rate mal. Ich saß auf der Straße, direkt vor meinem Haus. Kannst du dir das vorstellen? Fünf Schritte, und ich war drin.«
    »Mir ist so was auch schon mal passiert«, sagte Anton, der völlig vergessen hatte, wo er sich befand und warum, »als ich bei meinem Onkel zu Besuch war, in Amsterdam.«
    »Ist bestimmt schon eine Weile her?«
    »Vorigen Sommer, als die Züge noch fuhren. Ich hatte, glaube ich, einen schlechten Traum, ich wachte auf und wollte aus dem Bett steigen, um aufs Klo zu gehen. Es war stockdunkel. Zu Hause steige ich immer links aus dem Bett, weißt du, aber links war plötzlich eine Wand, und rechts, wo sonst immer die Wand war, war plötzlich gar keine mehr. Mir blieb vor Schreck fast das Herz stehen. Es kam mir so vor, als wäre die Wand viel dicker und härter als eine normale Wand und als sei da, wo keine Wand war, ein Abgrund.«
    »Und hast du damals geweint?«
    »Ja, natürlich, und wie.«
    »Und dann hat dein Onkel oder deine Tante das Licht angemacht und du hast wieder gewußt, wo du warst.«
    »Ja, mein Onkel. Ich stand aufrecht im Bett und…«
    »Psst!«
    Jemand kam die Treppe herunter. Sie legte wieder den Arm um ihn und horchte mit angehaltenem Atem. Stimmen auf dem Gang. Rasseln von Schlüsseln. Kurze Zeit Lärm, den Anton nicht deuten konnte, dann plötzlich Fluchen und das dumpfe Geräusch von Schlägen. Jemand wurde auf den Gang gezerrt, während jemand anders in der Zelle zurückblieb und schimpfte. Mit hartem, eisernem Knall fiel die Tür ins Schloß. Der Mann auf dem Gang wurde immer noch geschlagen oder getreten. Er schrie. Noch mehr Stiefel kamen die Treppe heruntergepoltert, noch mehr Geschrei, dann wurde der Mann offenbar die Treppe hinaufgeschleift. Es wurde stiller. Jemand lachte. Dann war nichts mehr zu hören.
    Anton zitterte.
    »Wer war das?« fragte er.
    »Ich weiß nicht. Ich bin auch noch nicht so lange hier. Dieses Pack… Die enden gottlob alle am Galgen, und zwar schneller als sie denken. Glaub mir, die Russen und Amerikaner machen kurzen Prozeß mit dem Gesindel. Laß uns an was anderes denken«, sagte sie, drehte sich zu ihm um und strich ihm mit beiden Händen übers Haar, »so lange es noch geht.«
    »Wie meinst du das?«
    »Na ja, so lange sie uns hier noch zusammen sitzen lassen. Du wirst morgen wieder freigelassen.«
    »Und du?«
    »Ich vielleicht nicht«, sagte sie in einem Ton, als gäbe es doch noch eine Möglichkeit, morgen freigelassen zu werden.
    »Aber laß mal, das wird schon werden. Worüber sollen wir reden? Oder bist du müde? Möchtest du schlafen?«
    »Nein.«
    »Also gut. Wir haben bis jetzt nur über die Dunkelheit geredet, wir können uns ja auch mal über das Licht

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