Das Attentat
Immer freundlich, immer hilfsbereit…« Sie ließ das Stückchen Würfelzucker, das sie in den Klauen einer kleinen silbernen Zange hatte, in die Zuckerdose zurückfallen. »Weißt du… für ihn war es, glaube ich, am schlimmsten. Der gute Junge. Ja, für deinen Vater und deine Mutter natürlich auch, aber Peter… er war noch jünger als du jetzt. Ich fand es so schrecklich, als ich es hörte. Ich habe gesehen, daß er dem Mann noch helfen wollte – Ploeg, meine ich. Es war ja schließlich nicht sicher, daß er tot war. Natürlich war er ein Schuft, das weiß ich auch, aber schließlich war er auch ein Mensch. Ein Junge mit einem so guten Herzen wie Peter… das hat ihn das Leben gekostet.«
Anton hatte den Kopf gesenkt und nickte. Mit den Händen fuhr er über das braune Leder des Kamelsattels, der auch verbrannt wäre, wenn Peter seinen Willen durchgesetzt hätte. Wenn passiert wäre, was Peter vermutlich gewollt hatte, wäre hier alles in Schutt und Asche gelegt worden. Herrn Beumers Lehnstuhl, Frau Beumers Küche, das Kruzifix, die makabren Stühle am Eßtisch: Hier würde das schädliche Unkraut wachsen, und seine Eltern wohnten noch nebenan, in ›Freiruh‹. Herr und Frau Beumer wären vielleicht zu alt gewesen, um noch erschossen zu werden, aber wie hätte Peters weiteres Leben ausgesehen? Er wäre Soldat gewesen; 1947, während der Polizeiaktion, hätte er zur 7. Dezember-Division gehört und in Indonesien vielleicht selbst Kampongs in Brand gesteckt, oder er wäre dort gefallen. Alles vollkommen unvorstellbar. Peter war nicht älter als siebzehn geworden, drei Jahre jünger als er, Anton, nun selber war, und auch das war unvorstellbar. Er war für immer der jüngere Bruder, auch noch mit achtzig. Alles unvorstellbar.
Plötzlich bekreuzigte sich Frau Beumer.
»Es sind immer die Besten«, sagte sie leise, »die Gott als erste zu sich nimmt.«
Dann war Fake Ploeg, dachte Anton, noch besser.
»Ja«, sagte er.
»Gottes Wege sind unergründlich. Warum mußte er gerade vor eurem Haus erschossen werden? Es hätte genausogut hier passieren können, oder bei Herrn Korteweg. Darüber haben wir so oft gesprochen, mein Mann und ich. Er hat immer gesagt, daß Gott uns verschont hat, aber wie soll man das verstehen? Das heißt doch, daß er euch nicht verschont hat, und warum sollte er euch nicht verschonen?«
»Und dann hat Ihr Mann gesagt«, sagte Anton und hatte das Gefühl, nun zu weit zu gehen, »das liegt daran, daß wir Heiden wären.«
Schweigend zupfte Frau Beumer mit der Zuckerzange an der Tischdecke. Zum dritten Mal stiegen ihr Tränen in die Augen. »Dieser herzensgute Junge, der Peter… deine liebe Mutter und dein lieber Vater… Ich sehe ihn noch hier vorbeikommen, deinen Vater, im schwarzen Mantel, mit Melone und Stockschirm. Er blickte immer zu Boden. Wenn er mit deiner Mutter ausging, ging er immer ein paar Schritte vor ihr her, wie die Indonesier. Die haben doch nie jemandem etwas Böses getan…«
»Saure Gurken sind wie Krokodile«, sagte Herr Beumer plötzlich.
Seine Frau und Anton sahen ihn an, aber er erwiderte den Blick, als wäre er die Unschuld in Person.
Frau Beumer richtete den Blick wieder auf ihre Hände.
»Was die durchgemacht haben müssen… Das hat dein Onkel dir wohl erzählt. Als deine Mutter auf den Kerl losging… Einfach umgebracht, wie die Tiere.«
Anton hatte das Gefühl, als bekäme er vom Nacken bis zum Steißbein einen elektrischen Schlag.
»Frau Beumer«, stammelte er, »würden Sie vielleicht…«
»Natürlich, mein Junge. Verstehe ich ja. Es ist alles so furchtbar.«
Er mußte sofort weg.
Er warf einen Blick auf seine Armbanduhr, sah aber nicht, wie spät es war.
»O je, ich muß gehen. Entschuldigen Sie bitte. Ich war nur…«
»Natürlich, mein Junge.« Sie stand auch auf und strich sich mit beiden Händen das Kleid glatt. »Ist das wirklich das erste Mal, daß du wieder in Haarlem bist, Toni?«
»Ja, wirklich.«
»Dann mußt du aber auch zum Mahnmal gehen.«
»Mahnmal?« wiederholte er.
»Da«, sagte Frau Beumer und deutete in eine Ecke des Zimmers, in der auf einem kleinen runden Tisch eine Vase stand, aus der große, weißliche Büschel ragten, die wie Straußenfedern aussahen (und vielleicht waren es auch welche), »da, wo es passiert ist.«
»Davon weiß ich nichts.«
»Wie ist das nur möglich«, sagte Frau Beumer. »Das Mahnmal ist schon vor ungefähr drei Jahren enthüllt worden, vom Bürgermeister. Es waren viele Leute eingeladen. Wir
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