Das Attentat
mit der hohen Lehne – auch sie mit Holzschnitzereien, schwarz lackiert und mit feinen Rosetten, irgendwie gotisch und gruselig –, vor denen er früher immer ein bißchen Angst gehabt hatte, wenn er hierherkam, um sich Süßigkeiten zu holen. Über der Tür noch immer das Kruzifix mit der gekrümmten, gelblichen Christusfigur. Es roch säuerlich im Zimmer, alle Fenster waren geschlossen und ebenso die Zwischentüren mit den bleiverglasten, kleinen Scheiben. »Wiedewitt, ich kann dich sehn«, sagte eine verstellte Frauenstimme im Radio, »ich pflück dich nicht, ich laß dich stehn.« Plötzlich rülpste Herr Beumer und schaute verwundert um sich, als hätte er irgend etwas gehört.
»Warum bist du nicht schon früher gekommen, Toni?« rief Frau Beumer aus der Küche.
Er stand auf und ging zu ihr. Vom Flur aus sah er, daß im hinteren Zimmer jetzt das Bett stand, vermutlich kam Herr Beumer nicht mehr die Treppe hinauf. Frau Beumer goß das heiße Wasser in einem dünnen Strahl auf den Kaffee.
»Es ist das erste Mal, daß ich wieder in Haarlem bin.«
»Ihm geht es in letzter Zeit sehr schlecht«, sagte Frau Beumer leise. »Tu einfach so, als ob du es nicht merkst.« Ja, was denn sonst, dachte Anton, soll ich denn laut lachen und »Quatsch nicht solchen Unsinn!« rufen? Im gleichen Moment hielt er es nicht für ausgeschlossen, daß das vielleicht die bessere Methode wäre.
»Selbstverständlich«, sagte er.
»Du hast dich eigentlich überhaupt nicht verändert. Du bist jetzt noch größer als dein Vater, aber ich habe dich sofort erkannt. Wohnst du immer noch in Amsterdam?«
»Ja, Frau Beumer.«
»Ich weiß das, weil dein Onkel kurz nach der Befreiung hiergewesen ist. Mein Mann hat dich damals in dem deutschen Auto wegfahren sehen, und wir hatten keine Ahnung, ob du noch lebtest. In dieser verdammten Zeit wußte doch niemand etwas. Wenn du wüßtest, wie oft wir von dir gesprochen haben. Komm.« Sie gingen ins Zimmer. Als Herr Beumer ihn sah, streckte er wieder die Hand aus, und Anton drückte sie schweigend. Frau Beumer legte die Perserdecke auf den Tisch, an deren Muster Anton sich noch erinnerte, und schenkte Kaffee ein.
»Nimmst du Milch und Zucker?«
»Nur Milch, bitte.«
Aus einem kleinen Henkeltopf goß sie etwas warme Milch in die breite, niedrige Tasse.
»Daß du das nie wiedersehen wolltest…«, sagte sie, als sie ihm die Tasse reichte. »Aber ich kann das wirklich gut verstehen. Es war zu schlimm, alles. Und ein paarmal hat jemand auf der anderen Seite gestanden und herübergeschaut.«
»Wer war das?«
»Keine Ahnung. Ein Mann.« Sie hielt ihm die Keksdose hin.
»Ein Plätzchen?«
»Gern.«
»Sitzt du auch bequem? Komm, setz dich doch an den Tisch.«
»Das ist doch mein Stammplatz«, sagte er lachend. »Wissen Sie das nicht mehr? Wenn Ihr Mann mir aus den Drei Musketieren vorgelesen hat.«
Frau Beumer stellte das Radio ab und setzte sich schräg an den Tisch. Sie lachte mit, aber gleich darauf verschwand das Lachen, und ihr Gesicht wurde schnell rot. Anton senkte den Blick. Mit Daumen und Zeigefinger griff er die Haut auf seinem Kaffee, genau in der Mitte, und zog sie langsam hoch, wobei sie sich wie ein Regenschirm zusammenfaltete. Er legte sie auf den Rand der Untertasse und nahm einen Schluck. Ein dünnes Gebräu. Etwas wurde jetzt von ihm erwartet, eine Frage nach früher, er sollte den Anfang machen, aber er hatte nicht die geringste Lust, darüber zu sprechen. Sie dachten sicher, daß er furchtbar an der Vergangenheit zu tragen hatte und jede Nacht davon träumte (tatsächlich aber dachte er fast nie daran). Für die beiden alten Leute, mindestens für einen der beiden, saß er hier im Zimmer als jemand, der er nicht war. Er sah Frau Beumer an. Ihr standen wieder Tränen in den Augen.
»Wohnt Herr Korteweg noch hier?« fragte er.
»Der ist schon ein paar Wochen nach der Befreiung ausgezogen. Niemand weiß wohin. Er hat sich auch nicht von uns verabschiedet. Karin auch nicht. Sehr merkwürdig war das. Nicht wahr, Bert?« Sie schien es noch einmal versuchen zu wollen, und Herrn Beumers Kopfnicken schien ein Zeichen der Zustimmung zu sein, ein zustimmendes Nicken, das erst mit seinem Tod aufhören würde, so fremd kam es Anton vor. Herr Beumer hatte keinen Kaffee bekommen; vermutlich, weil seine Tasse leer sein würde, bevor sie seinen Mund erreicht hätte. Wenn kein Besuch da war, wurde er sicher gefüttert.
»Neun Jahre sind wir Nachbarn gewesen«, sagte Frau Beumer, »den
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