Das Attentat
Tante noch am Tisch, sie waren gerade mit dem Essen fertig. Die Lampe brannte. Verstimmt fragte sein Onkel, warum er nicht kurz anrufe, wenn er später komme.
»Ich bin in Haarlem gewesen«, sagte Anton.
Sein Onkel und seine Tante sahen einander an. Da für ihn gedeckt war, setzte er sich an seinen Platz. Mit den Fingern nahm er ein Salatblatt, und mit dem Kopf im Nacken ließ er es in den Mund gleiten.
»Soll ich dir ein Ei braten?« fragte seine Tante.
Er schüttelte den Kopf, schluckte das Salatblatt herunter und fragte seinen Onkel:
»Warum hast du mir nie erzählt, daß bei uns an der Uferstraße ein Mahnmal steht?«
Van Liempt stellte seine Kaffeetasse hin, wischte sich den Mund ab und sah ihn unverwandt an.
»Das habe ich dir erzählt, Anton.«
»Wann denn?«
»Vor drei Jahren. Es ist neunzehnhundertneunundvierzig enthüllt worden. Wir haben eine Einladung bekommen, und ich habe dich gefragt, ob du hin willst, aber du wolltest nicht.«
»Ich weiß noch genau, was du gesagt hast.« Frau van Liempt füllte Salat auf einen Teller und stellte ihn vor Anton hin. »Du hast gesagt, daß dir die Steine gestohlen bleiben könnten.«
»Weißt du das nicht mehr?« fragte Herr van Liempt.
Anton schüttelte den Kopf und schwieg. Er starrte auf die weiße Tischdecke, in die er mit seiner Gabel langsam vier Linien zog, und zum ersten Mal spürte er so etwas wie Angst, etwas Saugendes, ein dunkles Loch, in das etwas hineinfiel, ohne jemals den Boden zu erreichen – spürte die Angst wie jemand, der einen Stein in einen Brunnen wirft und nie einen Aufschlag hört.
Als er noch über solche Dinge nachdachte, fragte er sich manchmal, was passieren würde, wenn er einen Schacht quer durch die Erde bohrte und dann in einem feuerfesten Anzug hineinspränge. Nach einer bestimmten Zeit, die zu berechnen war, würde er auf der anderen Seite herauskommen, mit den Füßen zuerst, er würde jedoch nicht ganz herauskommen, sondern einen Moment innehalten, und dann mit dem Kopf voran wieder in der Tiefe verschwinden. Nach Jahren, die ebenfalls zu berechnen waren, würde er schwerelos schwebend im Mittelpunkt der Erde zum Stillstand kommen, um dort für immer über den Lauf der Dinge nachdenken zu können.
Dritte Episode
1956
1
Anton setzte sein Studium fort mit durchschnittlichen Leistungen, weder gut noch schlecht. Als er 1953 nach dem Physikum das Haus in der Apollolaan verließ und im Zentrum der Stadt ein möbliertes Zimmer mietete, begann für ihn ein neuer Lebensabschnitt. In seinem kleinen, dunklen Appartement über dem Fischgeschäft, in einer Querstraße zwischen Prinsengracht und Keizersgracht, mit fünf bis sechs Metern Abstand zwischen sich und den Nachbarn auf der anderen Straßenseite, verschwanden die Haarlemer Ereignisse aus dem Januar 1945 in noch weiterer Ferne. Es ging ihm wie einem geschiedenen Mann: Er nimmt sich eine Freundin, um seine Frau zu vergessen, die Freundin aber gehört als ›anderer Teil‹ noch zu seiner Frau, und erst mit der dritten kann vielleicht wieder etwas Neues entstehen (die dritte hat immer die größte Chance). Auch das Abgrenzende muß immer wieder neu abgegrenzt werden – ein hoffnungsloses Unterfangen, weil in dieser Welt alles mit allem zusammenhängt. Der Anfang verschwindet nie, nicht einmal mit dem Ende.
Alle paar Monate plagte ihn einen Tag lang eine solche Migräne, daß er im Dunkeln liegen mußte (daß er sich übergeben mußte, kam selten vor). Er las viel – aber nichts über den Krieg –, und einmal publizierte er unter dem Pseudonym ›Anton Peter‹ in einer Studentenzeitschrift ein paar Naturgedichte. Er spielte Klavier, vor allem Schumann, den er liebte, und ging gern ins Konzert. Ins Theater ging er nicht mehr, seit ihm dort einmal aus unerklärlichen Gründen schlecht geworden war. Es war während einer großartigen Aufführung des ›Kirschgartens‹ von Tschechow, auf der Bühne saß ein Mann mit gebeugtem Haupt an einem Tisch, und eine Frau rief draußen auf einer Terrasse jemandem etwas zu, als ihn plötzlich ein so heftiges und zugleich unerklärliches Ekelgefühl überfiel, daß er sofort hinaus auf die Straße mußte. In dem Gewühl der Menschen, Straßenbahnen und Autos war der Ekel schnell wieder vorbei – und zwar so restlos, daß er sich ein paar Minuten später fragte, was eigentlich passiert war.
Jede Woche fuhr er mit einer Tasche schmutziger Wäsche auf dem Motorroller zur Apollolaan, wo er meistens auch zum Essen blieb. Im Laufe der
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