Das Attentat
ausgesehen, auch während er nicht daran gedacht hatte, ununterbrochen und immer gleich hatte es ausgesehen, die Zeit war wie ein Eisbrecher, der stetig und unbeirrbar durch das Polareis pflügte.
Er hielt den Kopf ein wenig schräg geneigt, warf hin und wieder die Haare nach hinten, ging zu der Stelle, wo er damals im DKW gesessen hatte und starrte auf die Lücke zwischen dem ersten und dem zweiten Haus. Während die Spatzen in den Bäumen herumlärmten, sah er das Haus wieder erstehen: gebaut aus den transparenten Steinen, dem Glas und dem Reet seiner Erinnerung. Er sah den Erker, darüber den kleinen Balkon des Schlafzimmers, das spitze Dach, links das Fenster seines Dachbodenzimmers und auf dem angeschrägten Brettchen unter dem Balkon:
Freiruh
Der Name von Kortewegs Haus war übermalt und verschwunden, aber die Namen ›Schöne Aussicht‹ und ›Ruhehort‹ gab es noch. Er sah die Stelle, wo, vor Urzeiten, Ploeg gelegen hatte, sah ihn auf dem steinernen Muster des Straßenpflasters als von der Polizei mit imaginärer Kreide gezeichneten Umriß. Er spürte die Versuchung, die Stelle zu berühren, seine Hände daraufzulegen, gab ihr jedoch nicht nach. Trotzdem ging er nun langsam zur anderen Straßenseite – doch bevor er dort ankam, bemerkte er hinter einem Fenster von ›Schöne Aussicht‹ eine Bewegung. Als er genauer hinschaute, erkannte er Frau Beumer. Auch sie hatte ihn schon gesehen und winkte.
Er erschrak. Keinen Augenblick hatte er daran gedacht, daß sie oder einer der anderen Nachbarn hier noch wohnen könnte. Unvorstellbar! Ihm ging es ausschließlich um den Ort, nicht um die Menschen; auch wenn er zu Hause an die Uferstraße dachte, kamen Beumers und Kortewegs und Aartsens nicht vor. Daß auch die Menschen dieselben geblieben waren… er wollte wegrennen, aber Frau Beumer stand schon in der Türöffnung.
»Toni!«
Er konnte immer noch weg – ging aber mit einem Lächeln durch das Gartentor auf sie zu.
»Guten Tag, Frau Beumer.«
»Toni, mein Junge!« Sie ergriff seine Hand und legte ihm den Arm um die Taille, während sie ihn mit kurzen ruckartigen Bewegungen ungeschickt an sich drückte, wie jemand, der schon lange niemanden mehr umarmt hat. Sie sah viel älter und kleiner aus als damals, ihre in kleine Locken gedrehten Haare waren weiß geworden. Sie ließ seine Hand nicht los. »Komm herein«, sagte sie und zog ihn über die Schwelle ins Haus. Ihr standen Tränen in den Augen.
»Aber ich müßte eigentlich…«
»Sieh doch nur, wen wir hier haben«, rief sie durch die Tür des Wohnzimmers.
In einem Sessel aus dem vorigen Jahrhundert, der in den fünfziger Jahren noch nicht modern war, sondern altmodisch (wie auch jetzt wieder, zum zweiten Mal), saß Herr Beumer. Er war so alt und klein geworden, daß er mit dem Scheitel nicht einmal mehr bis zu den Holzschnitzereien auf der hohen Rückenlehne reichte. Seine Beine waren unter einer braunkarierten Wolldecke verborgen, auf der seine Hände lagen und sich ununterbrochen bewegten; auch sein Kopf nickte unaufhörlich. Als Anton seine Hand ausstreckte, kam Beumers Hand wie ein verletzter, flatternder Vogel auf ihn zu, und als er sie fest drückte, spürte er statt der Hand nur die kalte, leblose Nachbildung einer Hand.
»Wie geht es dir, Kees?« fragte er mit leiser, gebrochener Stimme.
Anton sah Frau Beumer an. Sie gab ihm ein Zeichen, daß es nun einmal so und nicht anders sei.
»Gut, Herr Beumer«, sagte er. »Danke. Ihnen auch?«
Doch die Frage hatte Herrn Beumer offensichtlich schon so erschöpft, daß er nur noch nickte, Anton mit seinen kleinen, wäßrigen Augen jedoch unverwandt ansah. Seine Mundwinkel glänzten feucht, und die Haut des Gesichts war dünn wie Butterbrotpapier. Die wenigen Haare, die ihm noch geblieben waren, hatten die Strohfarbe, an die Anton sich erinnerte. Vielleicht war Herr Beumer früher rotblond gewesen. Aus dem dunkelbraunen Bakelit-Radio, das die Form eines der Länge nach halbierten Eies hatte, war ein Kinderprogramm zu hören. Frau Beumer hatte begonnen, den Tisch abzuräumen. Allem Anschein nach hatten sie gerade gegessen.
»Ich helfe Ihnen.«
»Nein, nein, mach's dir gemütlich, und ich werd uns einen Kaffee machen.«
Anton setzte sich neben dem Ofen rittlings auf den exotischen Hocker, einen Kamelsattel, den er schon sein Leben lang kannte. Herr Beumer ließ ihn nicht aus den Augen. Anton lächelte und schaute sich um. Es hatte sich nichts verändert. Um den Eßtisch noch immer die vier Stühle
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