Das Attentat
Jahre fiel ihm, mit jedem Besuch mehr, die gutbürgerliche Ordnung auf, alles war geregelt, nie etwas beschädigt, verblichen, improvisiert oder zweite Wahl. Das Essen kam in Schüsseln, der Wein in einer Karaffe, nie eine ausgezogene Jacke oder ein gelockerter Schlips. Wenn sein Onkel oder seine Tante gelegentlich zu ihm kamen, sah er ihren Gesichtern an, daß ihnen die Unordnung, die bei ihm herrschte, auffiel, und sein Onkel sagte jedesmal, er sei früher auch so ein Student gewesen.
1956 machte Anton das Rigorosum, begann sich auf seine Abschlußprüfungen vorzubereiten und arbeitete an mehreren Krankenhäusern als Assistent. Zu diesem Zeitpunkt hatte er sich bereits entschlossen, sich auf Anästhesie zu spezialisieren. Natürlich wußte er, daß er als Internist oder Kardiologe mit einer Privatpraxis zwei- oder dreimal soviel würde verdienen können, dann aber nie Zeit für sich hätte und selbst bald ein Magengeschwür oder ein Herzleiden bekäme, während er als Anästhesist geregelte Arbeitszeiten haben würde, die Tür des Krankenhauses pünktlich hinter sich schließen könnte und dann frei wäre. Das galt zwar auch für die Chirurgie, aber die wurde ausschließlich von Schlächtern gemacht. Doch es waren nicht nur negative Gründe, die ihn die Anästhesie wählen ließen. Ihn faszinierte das fragile Gleichgewicht, das gewahrt werden mußte, wenn die Schlächter ihre Messer ansetzten – der Balanceakt zwischen Leben und Tod auf des Messers Schneide und die Fürsorge für das arme, in seiner Bewußtlosigkeit hilflose Wesen auf dem Operationstisch. Er hegte die – mystifizierende – Vermutung, daß die Narkose den Patienten nicht vollkommen gefühllos mache, sondern mit den Mitteln der Chemie nur unfähig, seine Schmerzen zu äußern und sich hinterher an sie zu erinnern; dennoch werde der Patient durch die Chemie verändert: wenn er aus der Narkose erwache, sei stets deutlich zu sehen, daß er gelitten habe. Als er das einmal unter Kollegen, die sich mit Ausdauer über Segelyachten unterhielten, zur Sprache brachte, sahen sie ihn so vielsagend an, daß er seitdem solche Gedanken lieber für sich behielt, da er weiterhin dem Club angehören wollte.
Und dann die Politik. Es gab sie jeden Tag, aber er verfolgte sie kaum, und die Innenpolitik am allerwenigsten. Er las zwar die Zeitungsüberschriften, vergaß sie jedoch sofort wieder. Als ihn einmal ein englischer Kollege nach der niederländischen Staatsordnung fragte, konnte er ihm darüber genausowenig sagen wie über die deutsche oder französische. Die meiste Zeit seiner Zeitungslektüre verwendete er auf das tägliche Kreuzworträtsel. Er konnte keines auslassen, hatte es zu einiger Perfektion gebracht. Wenn er auf einem Tisch eine Zeitung mit einem unvollständig gelösten Rätsel sah, trieb ihn sein Ehrgeiz jedesmal dazu, weiter zu kommen als der Mann oder die Frau vor ihm, die meistens aufgegeben hatten, weil sie irgendwo einen Fehler gemacht hatten. Wenn er das Rätsel gelöst hatte, schaute er sich zufrieden das ausgefüllte Viereck an. Die Tatsache, daß die meisten Buchstaben zwei Funktionen hatten – in einem waagrechten und einem senkrechten Wort – und die Wörter sich auf derart phantastische Weise zusammenfügten, gab ihm ein Gefühl der Zufriedenheit und hatte für ihn etwas mit Poesie zu tun.
Doch in ebendiesem Jahr 1956 mußte er wählen gehen. Beim wöchentlichen Mittagessen in der Apollolaan fragte ihn sein Onkel, welche Partei er wählen werde. Er sagte, wahrscheinlich die Liberalen, und auf die Frage nach dem Warum wußte er nichts Besseres zu antworten, als daß seine Freunde auch so wählten. Van Liempt sagte, das sei die denkbar schlechteste Begründung für eine Wahl und brachte Anton mit einem mehrere Minuten dauernden Vortrag dazu, seine Meinung zu ändern. Der heutige Liberalismus, sagte er, kombiniere einen fundamentalen Pessimismus hinsichtlich der menschlichen Solidarität mit der Auffassung, das Individuum müsse so frei wie möglich sein. Doch entweder sei man Pessimist und für eine aufgezwungene Ordnung, oder Optimist und dann für die Freiheit. Beides zugleich sei unmöglich. Man könne nicht den Pessimismus des Sozialismus mit dem Optimismus des Anarchismus kombinieren. Doch genau das tue der Liberalismus. Es sei eigentlich ganz einfach, sagte er, man müsse nur wissen, ob man Pessimist oder Optimist sei. Was er denn sei? Anton hob kurz den Blick, senkte ihn dann wieder und sagte: »Pessimist.«
Also wählte er
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