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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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ganzen Krieg haben wir gemeinsam erlebt – und dann plötzlich ohne ein Wort ausziehen. Ich werde die Menschen nie ganz verstehen. Tagelang hat ein ganzer Stapel von Aquarien auf dem Bürgersteig gestanden, bis er von der Müllabfuhr abgeholt wurde.«
    »Das waren Terrarien«, sagte Anton.
    »Die Glasdinger. Ach, er war ein sehr unglücklicher Mann. Nachdem seine Frau gestorben ist, ist er ein paarmal hier gewesen. Kannst du dich noch an Frau Korteweg erinnern?«
    »Sehr undeutlich. Eigentlich nicht.«
    »Das war auch schon zweiundvierzig, oder dreiundvierzig. Wie alt warst du damals?«
    »Zehn.«
    »Jetzt wohnt da ein nettes junges Paar mit zwei kleinen Kindern.«
    Die Terrarien. Er hatte Korteweg als einen großen, mürrischen Mann in Erinnerung, der ihn grüßte, aber sonst kein Wort mit ihm sprach. Wenn er nach Hause kam, zog er immer sofort seine Jacke aus und krempelte die Ärmel seines Hemdes hoch, und zwar seltsamerweise nach innen, so daß eine Art Puffärmel entstanden, aus denen zwei haarige Arme herausragten. Er ging meistens sofort nach oben und tat dort irgend etwas Geheimnisvolles, das Antons Neugier erregte. Karin sonnte sich oft in einem Liegestuhl und hatte das dunkelblonde Haar aufgesteckt und den Rock bis weit über die Knie hochgeschoben, so daß er manchmal sogar etwas von ihrem Höschen sah. Sie hatte blaßblaue, etwas vorstehende Augen und kräftige, wohlgeformte Waden, die ihn an den Querschnitt der Flugzeugflügel denken ließen, die in der Zeitschrift Flugwelt abgebildet waren. Wenn er abends im Bett an Karin dachte, bekam er oft eine Erektion, aber was er damit anfangen sollte, wußte er nicht, und schlief deshalb einfach ein. Wenn er durch das Loch in der Hecke in ihren Garten gekrochen kam, unterbrach sie ihm zuliebe das Sonnen und spielte mit ihm Fuchs-du-hast-die-Gans-gestohlen. Sie schielte ein wenig, was ihr, wie Anton damals fand, sehr gut stand. Eines Tages ließ sie ihn das Hobby ihres Vaters sehen, nachdem er ihr Geheimhaltung versprochen hatte. Unter dem Dach, im hinteren Zimmer, standen rundherum auf kleinen Tischen zehn oder fünfzehn Terrarien mit Eidechsen. In seltsamer Stille, die kleinen Hände auf einer Baumrinde, sahen ihn die Tiere aus einer Vergangenheit an, die so unergründlich und regungslos war wie sie selber. Manche hatten den Körper zum S gebogen und schienen breit zu grinsen, aber ihre Augen zeugten von einem Ernst, der so starr und unerschütterlich war, daß er es fast nicht ertragen konnte…
    Anton stellte seine Tasse auf das Kaminsims neben die Pendeluhr. Aus der Art und Weise, wie Frau Beumer über Korteweg gesprochen hatte, schloß er, daß sie nicht genau wußte, was an jenem Abend mit Ploegs Leiche geschehen war. Er begriff, daß er, abgesehen von Kortewegs, vielleicht der einzige war, der das wußte. Auch seinem Onkel und seiner Tante hatte er es nie erzählt – vielleicht, weil er das Gefühl hatte, es sei weniger absurd, je weniger Menschen wüßten, wie absurd es war.
    »Und daneben…«, sagte er.
    »Herr und Frau Aarts. Die wohnen immer noch hier, aber die haben uns nie gegrüßt. Das weißt du doch noch? Du bist, glaube ich, auch nie zu ihnen gegangen. Sie leben sehr zurückgezogen. Neulich noch, Herr Groeneveld wollte etwas gegen das Unkraut hier nebenan unternehmen – «
    »Groeneveld?«
    »Die Familie, die jetzt in Kortewegs Haus wohnt. Du hast doch gesehen, was da alles wächst, wo euer Haus gestanden hat?«
    »Ja«, sagte Anton.
    »Die ganzen Samen wehen zu ihnen und zu uns in den Garten, man kommt mit dem Jäten gar nicht nach. Er wollte, daß die Gemeinde etwas dagegen unternimmt. Er hat einen Brief geschrieben, den wir auch unterschrieben haben, aber Herr Aarts war angeblich nicht zu Hause. Wie findest du das? Das kostet doch wirklich keine Mühe.« Entrüstet sah sie ihn an.
    Anton nickte. »Es ist wirklich unglaublich, was da alles wächst.«
    Der Ton, in dem er das sagte, gab Frau Beumer das Gefühl, vielleicht nicht sehr taktvoll gewesen zu sein. Plötzlich verunsichert begann sie:
    »Ich meine…«
    »Ich verstehe das sehr gut, Frau Beumer. Das Leben geht weiter.«
    »Was bist du doch für ein verständnisvoller Junge, Toni«, sagte sie und war froh darüber, daß er ihr das Problem abgenommen hatte. Sie stand auf. »Noch eine Tasse Kaffee?«
    »Nein, danke.«
    Sie schenkte sich selber ein.
    »Du erinnerst mich an den armen Peter«, sagte sie. »Du siehst ihm überhaupt nicht ähnlich, aber er war auch ein so vernünftiger Junge.

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