Das Attentat
hatten sehr gehofft, dich wiederzusehen; meinem Mann ging es damals noch ziemlich gut. Aber deinen Onkel habe ich auch nicht gesehen. Soll ich schnell mitgehen?«
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht, würde ich lieber…«
»Natürlich«, sagte sie und ergriff mit beiden Händen seine Hand, »du möchtest dort lieber allein sein. Auf Wiedersehen, Toni. Ich fand es herrlich, dich wiederzusehen, und ich bin sicher, daß das auch für meinen Mann gilt, auch wenn er das nicht mehr zum Ausdruck bringen kann.«
Sie drückten sich immer noch die Hände und schauten hinüber zu Herrn Beumer, der erschöpft die Augen geschlossen hatte. Frau Beumer sagte noch, daß Anton genauso große Hände habe wie sein Vater, dann verabschiedeten sie sich. Anton versprach, sie bald wieder zu besuchen, doch er wußte, daß er diese Menschen nie wiedersehen und nie wieder nach Haarlem kommen würde.
Als er aus der Haustür nach draußen trat, traf ihn unvermutet lichte Helle, wo sonst immer dunkel ihr Haus gestanden hatte. Über das Unkraut hinweg sah er im Garten des Hauses, das einmal ›Niegedacht‹ geheißen hatte, die neuen Bewohner: einen mageren, blonden Mann mit einer kleinen indonesischen Frau. Beide waren ungefähr fünfunddreißig Jahre alt, der Mann spielte mit einem kleinen Jungen Fußball, während sie mit einem Baby auf dem Arm zuschaute.
Dämmerung, blaue Stunde. Die Sonne war gerade untergegangen, und Uferstraße und Weiden lagen in einem Licht, das ungebunden war und weder zum Tag noch zur Nacht gehörte: es kam aus einer anderen Welt, in der sich nichts bewegte oder änderte, und das alles ein wenig erhöhte. Am Ende der Uferstraße, dort, wo sie sich wieder vom Kanal entfernte, sah er neben dem Bürgersteig eine mannshohe Hecke, die früher dort nicht gewesen war. Er überquerte die stille Straße fast diagonal, ging in gerader Linie zum Mahnmal.
Die meterbreite Hecke bestand aus Rhododendren, deren Blätter in dem zauberhaften Licht hell glänzten. Sie säumte eine lange Mauer aus behauenen Backsteinen. Auf dem quadratischen Mittelstück stand die graue Statue einer starr blickenden Frau mit aufgelöstem Haar und nach vorne gestreckten Armen, gemeißelt in einem düsteren, statischsymmetrischen, fast ägyptischen Stil. Darunter das Datum mit dem Text:
Sie fielen
für Königin und Vaterland
Links und rechts auf den Seitenflügeln, auf zwei Bronzetafeln, in vier Reihen die Namen der Toten. Die letzte Reihe lautete:
G. J. Sorgdrager 3.6.1919
W. L. Steenwijk 17.9.1896
D. Steenwijk-van Liempt 10.5.1904
J. Takes 21.11.1923
K. H. S. Veerman 8.2.1921
A. van der Zon 5.5.1920
Die Namen sprangen Anton in die Augen, sie waren Bestandteile eines bronzenen Alphabets geworden und darin aufgegangen, aber sie waren nicht aus Bronze, sondern nur aus der Bronze ausgespart. Die Namen der Männer, die mit gefesselten Händen vom Lastwagen gesprungen waren. Antons Mutter als einzige Frau, sein Vater als einziger, der vor der Jahrhundertwende geboren war. Das war alles, was es nun noch von ihnen gab. Außer ein paar alten Fotos, die sein Onkel und seine Tante noch hatten, war nichts von ihnen geblieben als ihre Namen hier und er, Anton, selbst. Ihre Gräber waren nie gefunden worden.
Vielleicht war in der örtlichen Kriegerdenkmalskommission darüber debattiert worden, ob ihre Namen hierher gehörten oder nicht. Vielleicht hatten ein paar Beamte eingewendet, daß sie nicht unbedingt zu den Geiseln gehört hätten und auch nicht regelrecht erschossen worden seien, sondern abgeschlachtet worden waren wie Tiere – woraufhin die Beamten der Zentralkommission gefragt hatten, ob sie in dem Falle kein Mahnmal verdienten – woraufhin wiederum die Beamten der Provinzkommission als Konzession erreicht hatten, daß zumindest Peters Name nicht aufgenommen wurde. Der gehöre, jedenfalls mit viel gutem Willen, zu den Toten des bewaffneten Widerstands, für die es andere Mahnmale gebe. Geiseln, Widerstandskämpfer, Juden, Zigeuner, Homosexuelle, die dürften, gottbewahre, nicht durcheinandergeworfen werden, sonst gebe es ein riesengroßes Durcheinander.
Der Leinpfad war immer noch da. Das aufgetaute Wasser. Als er sah, daß Frau Beumer im Erker stand und ihn beobachtete, ging er nicht den gleichen Weg zurück, den er gekommen war.
4
Er ging auch nicht zurück zur Party von van Lennep, sondern nahm den ersten Zug nach Amsterdam. Als er nach Hause kam, saßen sein Onkel und seine
Weitere Kostenlose Bücher