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Das Attentat

Das Attentat

Titel: Das Attentat Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Harry Mulisch
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die Sozialdemokraten, wie sein Onkel, der zu den vornehmeren Parteimitgliedern gehörte, aus denen in der Regel die Bürgermeister und Minister rekrutiert wurden. Erst Jahre später begriff Anton, daß fast niemand ausschließlich rational und überlegt wählte, sondern ganz einfach aus Eigeninteresse, oder weil er in einer bestimmten Partei den eigenen Nestgeruch vorzufinden glaubte oder der Spitzenkandidat vertrauenerweckend aussah. Es wurde eigentlich ›physisch-biologisch‹ gewählt, und Anton wählte dann doch eher konservativ, als ihm später eine neue Partei die Gelegenheit dazu bot, indem sie behauptete, der Unterschied zwischen rechts und links sei veraltet. Aber wirklich interessieren konnte ihn die Innenpolitik auch damals nicht (nicht mehr als ein Papierflugzeug den Überlebenden einer Flugzeugkatastrophe).

2
    Über den Kommunismus und damit über die Außenpolitik mußte er gezwungenermaßen einige Zeit später nachdenken. Die zweite Hälfte des Jahres 1956 war für Zeitungsleser eine paradiesische Zeit: Krach in Polen, Skandale im Königshaus, französisch-englischer Angriff auf Ägypten, Aufstand in Ungarn, Intervention der Sowjetunion, Landung Fidel Castros auf Kuba. Ein paar Wochen vor diesem karibischen Bravourstück hallte in den Niederlanden noch das Echo der russischen Panzer nach, die durch Budapest gerasselt waren, und am deutlichsten war das bei Anton um die Ecke zu hören gewesen, in dem großen Gebäude aus dem achtzehnten Jahrhundert, im Felix Meritis, der Zentrale der kommunistischen Partei. Eine rasende Meute zog durch die Stadt und zerstörte alles, was mit den Kommunisten zu tun hatte, von ihrer Buchhandlung bis zu den Fensterscheiben ihrer Wohnungen – und wurde dabei bedient von einer Presse, die die Adressen publizierte: Unter dem Deckmantel der objektiven Berichterstattung wurde gemeldet, daß die Wohnung von dem und dem Parteiführer, wohnhaft dort und dort, gestern nur geringfügig beschädigt worden sei –, am nächsten Tag wurde dann gründliche Arbeit geleistet, anschließend versammelte man sich auf der Keizersgracht vor Felix Meritis, das achtundvierzig Stunden lang von Tausenden von Menschen belagert wurde. Das Haus war in eine Festung verwandelt worden. Im Erdgeschoß waren alle Fenster mit Brettern vernagelt, von den Scheiben der oberen Etagen war keine einzige mehr heil, auf dem Dach waren Männer mit Helmen postiert und manchmal auch Frauen, die ein doppelt so lautes Johlen über sich ergehen lassen mußten. Wer das Gebäude betreten oder verlassen wollte, tat gut daran, sich in Polizeischutz zu begeben. Polizisten mit Gummiknüppeln und gezogenen Pistolen versuchten, die Menge auf der anderen Seite der Gracht zu halten, aber auch sie selbst liefen Gefahr, von einem der unentwegt durch die Luft fliegenden Steine getroffen zu werden. Übrigens warfen auch die Männer auf dem Dach mit Steinen, und zwar mit denen, die durch die Fenster hereingeworfen worden waren; und hin und wieder richteten sie einen Feuerlöscher auf eine kleine Gruppe, die sich zu nahe an das Haus herangearbeitet hatte. Auf der Gracht lag ständig ein graues Patrouillenboot, um die Leute vor dem Ertrinken zu retten.
    Aber Anton interessierte das alles nicht sonderlich, und mitzumachen kam für ihn erst recht nicht in Frage. Auch bei den Gesprächen über die Ereignisse hielt er sich zurück. Er wurde das Gefühl nicht los, daß das zwar alles sehr schrecklich war, aber zugleich auch ein Kinderspiel; außerdem hatte er den Eindruck, daß viele Leute im Grunde sehr froh über das waren, was nun in Budapest geschah, weil sie sich darin auf triumphale Weise in ihrer Meinung über den Kommunismus bestätigt sahen. Antons größte Sorge war der ununterbrochene Lärm. Die enge Straße, in der er wohnte, führte auch zur Rückseite des Parteibüros, auf die Prinsengracht, von der aus ebenfalls Angriffe unternommen wurden – sogar mit Molotowcocktails, wie der Fischhändler zu erzählen wußte. Als Anton der Lärm zuviel wurde, ging er ins Kino und sah sich den Film Das siebente Siegel an, und als er wieder zu Hause war, hörte er laute Musik, die zweite Symphonie von Mahler. Doch auch nachts hörte der Lärm nicht auf. Er nahm sich vor, die nächste Nacht in der ruhigen Apollolaan zu schlafen, aber da er sich nicht vorstellen konnte, daß der Krawall noch eine weitere Nacht dauern würde, ging er am nächsten Tag nach der Arbeit doch wieder nach Hause.
    Es dämmerte, und in vielen Fenstern brannten

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