Das Attentat
Kerzen. Aus zahllosen Fenstern hingen Fahnen auf Halbmast. Um zu verhindern, daß der Motorroller den Auseinandersetzungen zum Opfer fiel, parkte er ihn ein paar Häuserblocks weiter und ging das letzte Stück zu Fuß.
Das Gedränge und die Aufregung hatten eher noch zugenommen. Es kostete ihn Mühe, in dem Gewühl die Haustür zu erreichen – und als er gerade im Eingang stand, brach der Sturm los. Plötzlich erschienen von der Keizersgracht her Polizeiautos und fuhren mit heulenden Sirenen und voll aufgeblendeten Scheinwerfern auf die Menge zu, gasgebend, bremsend und wieder gasgebend; auf einmal waren auch Pferde da, berittene Polizisten mit gezogenen Säbeln, und Motorräder mit Beiwagen, die den Bürgersteig auf und ab fuhren. Aus den Beiwagen lehnten sich behelmte Polizisten und schlugen mit langen schwarzen Latten auf die Menschen ein. Auf der Straße brach Panik aus, doch zu seiner Verwunderung merkte Anton, daß gerade das ihn ruhiger machte. Eben noch hatte er eine gewisse Aufregung verspürt, aber nun, da überall geschlagen wurde und geschrien, und Menschen niedergetrampelt wurden oder sich blutend in Sicherheit zu bringen versuchten, überkam ihn eine seltsame Gelassenheit. In dem Hauseingang, von dem auch die Tür zum Fischladen abging und der nicht größer war als zwei Quadratmeter, standen nun ein Dutzend Leute, die ihn gegen seine Haustür drückten. Er hatte den Schlüssel schon in der Hand, aber er wußte, daß er (selbst wenn er sich hätte umdrehen können) die Tür nicht öffnen durfte, da sonst im nächsten Augenblick das Treppenhaus und sein Zimmer gerammelt voll gewesen und mit dem Besuch dann sicher auch seine Einrichtung verschwunden wäre. Ein großer Kerl stemmte seinen Rücken mit aller Kraft gegen ihn, oder es sah nur so aus: denn sicher wurde auch er von den anderen gedrückt. In der rechten Hand hatte er einen großen grauen Stein, den er notgedrungen über die Schultern hinausgestemmt hielt. Anton mußte den Kopf zur Seite drehen, um seine Nase zu schützen und nicht zu ersticken, aber aus den Augenwinkeln sah er die schmutzigen Nägel und die Schwielen an den Fingern des Mannes.
Plötzlich verließen alle fluchtartig den Hauseingang. Der Mann vor ihm drehte sich kurz um, vielleicht um zu sehen, wen er die ganze Zeit in seinem Rücken gespürt hatte, und lief dann auf die Straße, drehte sich aber wieder um und blieb stehen.
»Guten Tag, Ton«, sagte er.
Anton schaute in das breite, rohe Gesicht. Plötzlich erkannte er es wieder.
»Guten Tag, Fake«, sagte er.
3
Ein paar Sekunden lang sahen sie sich an, Fake mit dem Stein in der Hand, Anton mit dem Schlüssel. Auf der Straße herrschte noch immer Tumult, aber das Zentrum der Gewalt hatte sich zur Prinsengracht verlagert.
»Komm rauf«, sagte Anton.
Fake zögerte. Er schaute nach links und nach rechts, als könne er nicht so schnell Abschied nehmen, begriff dann aber, daß es kein Entkommen gab.
»Nur ganz kurz.«
Während Anton hinter sich auf der Holztreppe die schweren Schritte hörte, gab er sich alle Mühe zu begreifen, daß das tatsächlich Fake Ploeg war. Er hatte nie wieder an ihn gedacht, obwohl auch Fake in der Zwischenzeit weitergelebt hatte und es ihn immer noch gab auf der Welt. Sie hatten sich nicht die Hand gegeben. Worüber sollte er sich mit ihm unterhalten?
Warum, um Himmels willen, hatte er ihn eingeladen? Im Zimmer machte er Licht und zog die Vorhänge zu.
»Möchtest du etwas trinken?«
Anton bekam einen Schreck, als Fake den Stein auf den Flügel legte, den er, Anton, zum Geburtstag bekommen hatte; Fake legte den Stein einfach ab, nicht unsanft, aber doch mit einem Geräusch, das verriet, daß der Lack beschädigt worden war.
»Ein Bierchen, wenn du hast.«
Anton schenkte sich aus der Flasche, die er am Tag zuvor geöffnet hatte, ein Glas Landwein ein. Fake ließ sich unbeholfen in den leinenbespannten Stuhl fallen, der wie ein Riesenfalter aussah; Anton setzte sich auf das durchgesessene Chesterfieldsofa.
»Prost«, sagte er und wußte nicht, was er sonst noch sagen sollte.
Fake hob kurz sein Glas und trank es halb aus. Mit dem Handrücken fuhr er sich über den Mund und schaute zum Bücherschrank und dem Wandbrett mit den Sextanten.
»Sieht nach Student aus.«
Anton nickte. Fake nickte ebenfalls. Er richtete sich auf und versuchte bequemer zu sitzen, indem er sich schräg in den Stuhl setzte.
»Klappt es nicht?«
»Ein Scheißstuhl«, sagte Fake.
»Aber sehr modern. Komm, setz dich
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