Das Auge Aldurs 3 - Der Riva Kodes
weiteren Beweis für die Brillanz des Dienstes mag man darin erkennen, daß Tolnedra während des gesamten arendischen Bürgerkriegs vollständige diplomatische Beziehungen zu den drei zerstrittenen arendischen Parteien pflegte und ständige Gesandtschaften in Vo Mimbre, Vo Astur und Vo Wacune unterhielt.
Das oberste Ziel der tolnedrischen Politik (will heißen, der borunischen Politik) im Verlauf des gesamten arendischen Bürgerkriegs bestand darin, so weit wie möglich ein Machtgleichgewicht zwischen den drei einander befehdenden Herzogtümern aufrecht zu erhalten. Solange Arendien zerstritten blieb, blieb Tolnedras Nordgrenze sicher. Als ein Philosoph dem Kaiser Ran Borune XXII. eine förmliche Beschwerdeschrift des Inhalts vorlegte, wie unmoralisch es sei, Krieg und unvorstellbares menschliches Leid in Arendien nur um eines tolnedrischen Vorteils willen zu schüren, entgegnete der Kaiser verbindlich: »Aber das ist Politik, mein lieber Freund, und Politik hat nichts mit Moral zu tun. Man wäre klug beraten, beides stets auseinanderzuhalten. Moral beschäftigt sich mit dem, was wir vielleicht gerne tun würden, die Politik hingegen mit dem, was wir tun müssen. Zwischen Moral und Politik besteht nicht die geringste Verbindung.«
Die Diplomatie der Boruner machte ihren Weg auch in den Norden und begründete Beziehungen zu den Cherekern und Drasniern in Val Alorn und Boktor. Die Chereker ließen sich schließlich überzeugen, ihre Überfälle auf die tolnedrischen Schiffe im Meer der Stürme aufzugeben, und bald entwickelte sich ein gesunder Dreiweg-Handel. Waren aus Drasnien wurden auf cherekischen Schiffen von Kotu durch den Golf und die Enge von Cherek zum Hafen von Camaar im heutigen Sendarien transportiert, um dort auf tolnedrische Schiffe verladen zu werden. Die drei Nationen zogen ungeheure Gewinne aus dieser Übereinkunft, und die Chereker fanden schnell heraus, daß man mit ehrlichem Handel mehr verdienen kann als mit Piraterie. Das Problem des Handels mit der Insel der Winde hingegen war wesentlich schwieriger. Die Chereker setzten ihre Blockade des Hafens von Riva aus Gründen fort, die größtenteils unklar blieben. Man vermutete allgemein, daß die Insel entweder eine cherekische Kolonie oder ein cherekisches Protektorat war, doch im Lichte heutiger Erkenntnis scheint keine dieser Vermutungen zutreffend gewesen zu sein. Obwohl die Rivaner Alorner sind – wie die Chereker, die Drasnier und die Algarer –, sieht es eher so aus, als wären sie ein von Cherek unabhängiges Volk. Die Blockade, die Generationen von tolnedrischen und sendarischen Kaufleuten sehr zu schaffen machte, scheint irgendeine religiöse, für tolnedrische Diplomaten unverständliche Bedeutung gehabt zu haben. In den Erlässen von Val Alorn im Jahre 3097 wurde die Blockade endlich als Teil jenes brillant konzipierten Vertrags, der die Beziehungen zwischen Cherek und Tolnedra normalisierte, aufgehoben, und tolnedrische Schiffe liefen den Hafen von Riva an.
Man war allgemein davon ausgegangen, daß die Rivaner ein stillschweigender Vertragspartner der Erlässe von Val Alorn gewesen seien, doch es stellte sich rasch heraus, daß dem nicht so war. Kaufleute landeten an der Felsküste dieses unwirtlichen Eilands, nur um sich den düsteren und unbezwingbaren Wällen der Festung von Riva gegenüberzusehen. Das Tor der Festung blieb verschlossen, und die Rivaner weigerten sich, die Anwesenheit der Händler zur Kenntnis zu nehmen.
Es war der letzte Borune-Herrscher, der den katastrophalen Angriff auf die Stadt befahl, womit er vielleicht den Beweis dafür antrat, daß selbst das edelste Geschlecht mit der Zeit degeneriert. Fünf Legionen wurden gegen Riva eingesetzt, um das Tor der Stadt zu bezwingen, und in der Bucht trieb sich eine Horde von Kauffahrern herum, die das Öffnen des Tors erwartete. Der tolnedrische Charakter, das darf man an dieser Stelle wohl einmal anmerken, hat etwas entschieden Ungesundes. Während der durchschnittliche Tolnedrer für gewöhnlich ein vernünftiger, verläßlicher Mensch ist, kann er doch gleichsam zur Bestie werden, wenn man seinem Händlertrieb die Befriedigung verweigert. Es hat Fälle gegeben, daß Kaiserliche Truppen eingesetzt wurden, um Handelsbeziehungen zu starrköpfigen Völkern zu eröffnen, und dabei hat man Kaufleute beobachtet, die in ihrer unvernünftigen Gier, die ersten zu sein, tatsächlich vor den Legionen herliefen, ihre Waren schwenkten und sie den verdutzten feindlichen Kriegern
Weitere Kostenlose Bücher