Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
murmelte er fortwährend, ohne seinen Gesichtsausdruck zu verändern. Plötzlich geriet er ins Stocken, stieß knappe Sätze aus. Während sein faltiges Gesicht weiter ohne Regung blieb, änderte sich das des Fahrers dramatisch. Ein unbestimmtes Grauen nistete sich in seinen Zügen ein.
„Sie dürften nicht hier sein“, stotterte er.
Ellen und Leonard, beide mit wachsender Erregung, fragten gleichzeitig. „Was meint er damit?“
„Ich weiß nicht“, stammelte Kaih und mühte sich, aus den hervorgepressten Lauten des Alten einen Sinn zu filtern.
„Er sagt, Sie haben den Platz eines anderen eingenommen.“
Leonard durchzuckte es wie ein kleiner Junge, den man aus bloßem Verdacht eines Diebstahls bezichtigte und damit die Wahrheit traf. Für einen Moment glaubte er, der Alte habe tatsächlich erkannt, dass er mit dem Ausweis eines anderen reiste. Das Gefühl schlich schnell vorüber. Selbst wenn der Alte zu einer solchen Sicht befähigt wäre, würde das kaum das Entsetzen im Gesicht des Fahrers erklären.
„Und er sagt, ein anderer hat vor kurzem Ihren Platz eingenommen“, übersetzte Kaih und nannte ein Datum.
Hektisch packte der Alte seine Sachen zusammen.
„War´s das schon?“, fragte Leonard verdattert.
„Das ist alles, was er sehen kann.“
Unübersehbar log der burmesische Fahrer. Aber er setzte Worte hinzu, die Leonard den Atem nahmen.
„Nur, dass ein kleines Kind Ihnen hier großes Glück gebracht hat.“
Der Alte konnte sehen!
Ein blutroter Schleier senkte sich vor Leonard herab. Dahinter erschien, wie eine Fata Morgana, die aufgeschlitzte Leiche Daniel Reidys. Das Datum, das Kaih genannt hatte, war der Tag seiner Abreise aus Singapur. Hatte der Australier den Platz eingenommen, der für ihn selbst vorgesehen war? Im Leichenschauhaus?
Leonard s Gedächtnis spielte ihm den letzten Tag in Singapur vor. Daniel Reidy war entgegen seiner Aussage schon am frühen Nachmittag in Jeannys Bude aufgetaucht und übergab Leonard die Papiere. Saubere Arbeit, jeden Cent wert. Auf der Stelle stürzte sich Reidy auf den flüssigen Teil seines Honorars, eine Flasche Jack Daniels. Sobald er den Pass bekam, wollte Leonard aus der Stadt verschwinden. Er brauchte nur eine Viertelstunde, um seine Sachen zu packen. Dann nahm er das alte Tierfell, das er auf einem Markt erstanden hatte. Grinsend stopfte er einen Stoß alter Zeitungen hinein und verschnürte es. Das Paket wollte er mit der Post zustellen, damit Mister Khuo wieder einen Grund fand, sich ganz besonders zu freuen. In der Eile des Aufbruchs vergaß er es und so blieb es auf der Anrichte im Flur. In der Zwischenzeit schaffte es Reidy, mehr als die halbe Flasche in sich hinein zu schütten. Ausgebreitet lag er auf dem Bett und schnarchte sich in den Tiefschlaf. Leonard unternahm einen hoffnungslosen Versuch, den Säufer zu wecken. Halb so wild, dachte er. Jeanny würde mit Reidy schon fertig werden. Er ahnte nicht, dass man den Fälscher keine zwanzig Stunden später in einem Plastiksack aus der vollgebluteten Wohnung zerren würde.
„ Hatten Sie ein Erlebnis mit einem kleinen Kind hier in Rangun?“
Ellens Stimme schreckte ihn auf.
„Entschuldigen Sie mich“, sagte er nur, stand auf und verließ den Tisch.
Kaih wartete, bis er im Eingang verschwand. Dann flüsterte er leise: „Ich wagte nicht, alles zu übersetzen. Vor allem, was die Zukunft dieses Mannes betrifft. Der Alte sagte, an seiner Seite ist der Tod.“
Gehässig lachte Ruud auf.
„Also das ist jetzt keine so große Wahrsager-Kunst. Natürlich wird er in Zukunft sterben. Das tun wir am Ende alle.“
„Nicht dieser Mann wird sterben. Er meinte, dieser Mann würde jemanden töten.“
Wie bei jedem, der sich zu lange in Ländern wie Burma aufhielt, trübten sich auch Ruuds Sinne ein. Daheim verspottete er alle, die ihm mit Wahrsagerei oder übersinnlichen Phänomenen kamen. In Asien oder Afrika, wo ein tief verwurzelter Aberglaube in das alltägliche Leben drang, verdunkelte sich auch sein sonst klar strukturiertes Denken. Er empfand Schadenfreude, weil die Vorhersage des Alten seine eigene Einschätzung bestätigte. An dem Amerikaner war etwas faul. Auch wenn diese Einschätzung zunächst durch billiges, männliches Konkurrenzverhalten um die Gunst einer Frau hervorgerufen wurde. In ihrer Spontanität ähnelte sie der gespenstischen Vision des Wahrsagers. Das verführte Ruud, einer totalen Irrationalität den Vorzug zu geben.
„Er hatte ein Erlebnis mit einem kleinen Kind,
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