Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
oder?“
In Gedanken versunken schwieg Ellen.
„Und wenn der Alte damit recht hatte, stimmt es dann auch, dass er jemanden umlegen wird?“
„Jetzt hör auf, Ruud“, empörte sich Ellen. „Das ist doch völlig absurd.“
Er merkte, wie er an Boden verlor. Vorsichtig taktierend versuchte er, an den Beginn des Abends anzuknüpfen.
„Okay, schon klar. Ich meine nur“, und er griff wieder ihre Hand, „der Wahrsager ist echt gut. Erinnere dich. Er hat gesagt, du selbst würdest in diesem wunderschönen Land deine Gefühle an einen deiner Begleiter verlieren.“
Dieses Mal entzog sie ihre Hand mit einem heftigen Ruck.
„Entschuldige. Aber nach dieser Art Gefühl ist mir jetzt überhaupt nicht.“
Das Kästchen wieder geschultert verharrte der Alte kurz bei Nini. Niemand sonst hörte, was er ihr zuflüsterte.
„Wenn dir das Leben deiner Herrin lieb ist, sorg dafür, dass dem Fremden mit den grünen Augen etwas zustößt.“
Aus der Hand des Alten glitt, unsichtbar für die anderen, ein Zettel zu Boden. Sofort stellte Nini ihren nackten Fuß darauf.
„Geh zu Dao Dai“, murmelte der Wahrsager. „Die alte Hexe hat alles, was du brauchst.“
Lo Han hass te das Land bereits, als er die Ankunftshalle des Ranguner Flughafens betrat. Seine abstoßende Narbe genügte, um die Taxifahrer, die die Neuankömmlinge umwuselten, auf Abstand zu halten. Keiner von ihnen wagte, ihn anzusprechen. Chan Khuos Kontakte sorgten für einen reibungslosen Ablauf. Außer Kleidung zum Wechseln enthielt sein Koffer nur Werkzeuge, die man einem Metzger zuordnen würde. Einem Metzger, der vor dem Abschlachten noch seinen Spaß mit den Tieren haben wollte. Ungehindert ging das Gepäck durch den Zoll. Seinen Pass zierte eine unbegrenzte Aufenthaltsgenehmigung, die Lo Han nicht länger als nötig zu strapazieren gedachte. Hielt sich der Engländer noch in der Stadt auf, brauchte er keine 48 Stunden, um wieder den Rückflug nach Singapur anzutreten. Zwei Männer in Zivil holten ihn ab, Militärangehörige, wie Lo Han vermutete, niedere Ränge. Ihre Alkoholfahnen wehten bis in den Fond des Geländewagens. Sie rumpelten über Schlaglöcher und Unebenheiten der Fahrbahn in die Vororte Ranguns. Um ihn herum nahezu vollständige Dunkelheit. In den Pfützen aus Licht konnte Lo Han nicht einmal die Innenstadt ausmachen. Was für ein erbärmliches Land! Seine Hauptbeschäftigung würde darin bestehen, sich den Staub aus der Kleidung zu klopfen. Nach zweistündiger Fahrt hielten sie vor einer Holzbaracke. Die einzige Beleuchtung bestand aus einer Neonröhre, mit dem Kabel an das Geländer der Veranda geknotet. In ihrem dürftigen Schein erwartete ihn ein Mann, der sich als Colonel vorstellte. Die Baracke gehörte zu einem Militärkomplex, im Dunkeln konnte Lo Han aber keine weiteren Gebäude erkennen. Der Colonel überreichte ihm einen Zettel. Darauf standen die Namen von vier Männern sowie die Hotels, in denen sie wohnten. Außer diesen, versicherte der Colonel, waren in den letzten vier Tagen keine alleinreisenden Männer im entsprechenden Alter in Rangun angekommen. Lo Han las:
Uberto Salessini, Italiener – Hotel Grand Royal
Ludovic Gerrault, Franzose – Hotel Myanmar
Wayne Lundy, Neuseeländer – Hotel Myanmar
Martin Ryland, Amerikaner – The Imperial Hotel
Leonard Finney sprach englisch , konnte sich, so schätzte Lo Han, also am leichtesten hinter einem der beiden Letztgenannten verstecken. Er beschloss, ihnen noch heute Nacht einen Besuch abzustatten.
Leonard kauerte in seinem Zimmer, den Kopf in die Hände gestützt, vor einem schlichten Holztisch. Die Aircondition klapperte, als säße darin ein Kobold gefangen, der versuchte, mit Tritten gegen die Lamellen ins Freie zu gelangen. Wie konnte jemand in schmuddeligen Pappkarten sehen oder auch nur ahnen, was ihm selbst in der Realität widerfahren war? Gab es noch andere als die fünf Sinne? Besaß er selbst sie auch? Das Bild des toten Daniel Reidy war plastisch vor seinem inneren Auge aufgetaucht. Wie eine Fotografie, wie die Wirklichkeit. Wessen Platz nahm er dann selbst ein?
Unter dem Eindruck des Erlebnisses empfand er es als Erleichterung, sich wieder der Hinterlassenschaft des Captain Blackford Conley zu widmen. Sie bestand zum Großteil aus handschriftlichen Notizen, meist ohne Datum. Es erschwerte ihre zeitliche Abfolge, machte es in manchen Fällen sogar unmöglich. Einzelne Abschnitte waren mit der Zeit verblasst und unleserlich geworden. Überall erkannte Leonard
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