Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
die fünfhundert“, bestätigte Namdring.
Leonard versuchte, sich zu konzentrieren, die Ereignisse der Nacht zu verdrängen. Ninis Angst gab ihm, was Namdring versagt blieb: eine Erleuchtung.
„Die Umkehrung der Symbolik“, platzte er in die verblüffte Runde. Dann wandte er sich direkt an den Mönch.
„Sie sagten, der Teil des Tempels, der als die Dunkelheit bezeichnet wurde, sei in die Erde gebaut und seine Spiegelung, das Licht , darüber. Müsste es bei einer Umkehrung der Symbolik nicht eigentlich, na ja, eben umgekehrt sein?“
„Richtig. Das ist mir tatsächlich entgangen.“
Nun ignorierte Leonard jede Logik, zielte auf das im wahrsten Sinne Undenkbare, nur gefühlsmäßig zu Erfassende.
„Nini kann ihn uns zeigen.“
Durch Ellen wusste er von dem überbordenden Aberglauben des Mädchens. Es war der anderen Seite zugänglich. Am Abend zuvor hatte Nini die Anwesenheit von mata hitam , dem Auge der Dunkelheit gespürt. Die Erbauer des Tempels dürften sich diese Hingabe an das Übernatürliche, oder besser, die Furcht davor, zunutze gemacht haben.
„Der sichtbare Teil der Anlage repräsentiert also die Dunkelheit. Er sollte das Untergewölbe verbergen. Gleichzeitig aber diente er der Abschreckung.“
Dass ihm ein anderer mit dieser naheliegenden Entdeckung zuvorgekommen war, trug Namdring mit Fassung. Ellen hingegen suchte noch nach dem tieferen Sinn.
„Wie kann Nini es uns zeigen?“
„Welcher von den Tempeln hier macht den Leuten am meisten Angst?“, fragte Leonard.
„Das ist nicht Ihr Ernst!“, prustete Ruud los.
Fasziniert glotzte Ellen Leonard an und auch Namdring nahm seine Frage auf wie die logische Konsequenz einer wissenschaftlichen Analyse.
„Es gibt einen. Der Thammuyiangi. Um ihn ranken sich die düstersten Legenden. Es heißt, der Fürst, der ihn erbaute, habe seinen Vater getötet, um dessen Titel zu erben. Und auch seinen einzigen Bruder, weil er es auf dessen Frau abgesehen hatte. Die Prozession zur Weihe des Platzes, auf dem der Tempel errichtet werden sollte, folgte, anders als vorgeschrieben, gegen den Lauf der Sonne. Was auf eine schwarzmagische Bestimmung der Anlage hindeutet. Eine andere Geschichte erzählt von vier Jungfrauen, die lebendig unter den vier Zugängen eingemauert wurden. Der Bau wurde nie vollendet. Der Fürst selbst verschwand auf mysteriöse Weise im Innern. Danach legte niemand mehr Hand an dieses dunkle Werk.“
Wie es Leonard erwartete, weiteten sich Ninis Augen im Lauf der Erzählung in blankem Entsetzen.
„Ich bin sicher, diese Schauermärchen entbehren weitgehend einer Grundlage“, fügte Namdring hinzu. „Aber sie könnten mit Absicht in Umlauf gebracht worden sein. Mit erstaunlichem Erfolg. Noch heute traut sich kein Bewohner der umliegenden Dörfer nach Einbruch der Nacht in die Nähe des Thammuyiangi.“
Leonard hob einen Finger, wie, um auf dieses gespenstische Gemäuer zu zeigen.
„Das ist er!“
Bis der Tempelbezirk seine heutige Ausdehnung erlangte, vergingen Jahrhunderte. In deren Verlauf errichteten unzählige Könige, Fürsten, Mönchsorden und Oberhäupter wohlhabender Familien ihre Heiligtümer. Das inzwischen vierzig Quadratkilometer umfassende Areal besaß ursprünglich einen quadratischen Grundriss. Eine gedachte Form, die zu keiner Zeit durch Mauern oder andere sichtbare Begrenzungen Gestalt erhielt. Später sprengte die unermüdliche Hingabe, sich durch den Bau einer Pagode spirituelle Verdienste zu erwerben, den vorgegebenen Rahmen. Der Tempelbezirk wucherte nach Süd und Ost aus und entlang des geschwungenen Flusslaufs. Der Thammuyiangi jedoch erhob sich exakt in der Mitte jenes uralten, unsichtbaren Grundrisses.
Als der Tempel in Sicht kam, konnte Leonard ihn nicht mit den düsteren Geschichten, die ihn umgaben, in Verbindung bringen. Friedlich ragte er, ganz aus dunkelrotem Ziegel gebaut, im Licht der Sonne zwanzig Meter aus der Ebene empor. Auf der massiven Basis erhoben sich vier Terrassen. Sie neigten sich nach innen und verliehen dem oberen Teil des Baus das Aussehen einer Pyramide. Dem Thammuyiangi fehlte die Kuppel, die bei anderen Bauten die letzte Terrasse abschloss. Eine quadratische Mauer umzog ihn, auf jeder Seite in der Mitte durchbrochen von einem Torbogen. Einem Kompass gleich wiesen sie in die vier Himmelsrichtungen. Von den Toren führten gepflasterte Wege zu den vier Eingängen, die über dreistufige Treppen betreten werden konnten. Leonard erwartete eine Reihe Götzenbilder oder sonstige,
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