Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
er“, bestätigte sie mit leisem Stolz. Aber woher wusste er das alles? Er hielt sich kaum länger als zwei Wochen in Asien auf. Zum ersten Mal in seinem Leben. Und nun bewegte er sich durch die mythische Welt des Fernen Ostens, als wäre er schon jahrelang hier zuhause. Das Licht von Leonards Lampe stockte, ruckte dann aufwärts, dann wieder seitwärts.
„Hier sind sie!“
Hintereinander beleuchtete er die Figürchen.
„Diese drei. Dann diese hier. Und die.“
„Siehst du da irgendwas Ungewöhnliches?“, fragte Ruud verständnislos.
„Die Mudras. Die Art, wie sie meditieren“, antwortete Ellen. „Die ersten drei haben beide Hände im Schoß. Das zweite Dreiergrüppchen meditiert mit einer Hand erhoben, und die drei der letzten Gruppe legen eine Hand auf den Oberschenkel.“
Als Ruud die übrigen Buddhas kontrollierte, fand er alle drei Meditationsstellungen überall wieder.
„Aber das ...“, wollte er sagen, als ihn Leonard unterbrach.
„Das ist nicht alles.“
Langsam fuhr Leonard mit dem Lichtstrahl alle neun Figuren ab. Dachte man sich eine Linie, die sie miteinander verband, ergab das einen dreizackigen Stern. Auf Leonards Zeichnung hatte Ellen ihn schon gesehen.
„Verdammt, ja. Ich werd verrückt. Das sind sie wirklich.“
„Okay, okay. Beruhig dich. Dann sind sie´s. Und wo ist jetzt die 15, über die sie wachen?“
Ruuds Eigenart, ständig das Haar in der Suppe zu suchen, bremste Ellens Euphorie nur kurz. Sie fragte sich, was sie bis zu jener schicksalhaften Begegnung vor dem Imperial in Rangun an diesem Kerl gefunden hatte.
„Der Satz ging noch weiter“, sagte Leonard.
„Ja, stimmt. Es hieß, die 9 wachen über die 15 und dieser eine führt ins Licht.“
„Es ist keine Rechenaufgabe“, korrigierte Leonard seine erste Einschätzung. „Die 15 bezieht sich auf einen einzigen Buddha. Der führt ins Licht. Mit anderen Worten. Der öffnet das Tor.“
Ruud breitete die Arme aus, als wollte er sagen: Such dir einen aus!
„Hast du eine Idee?“, rief Ellen hinauf.
„Wenn das ganze Zahlenmystik ist, dann kommt es darauf an, was die Zahl 15 bedeutet.“
Alle Augen richteten sich auf Namdring.
„Sie steht für Perfektion, Vollendung.“
„Die Vollendung für den Buddha ist das Nirvana. Wie stellt man den Erleuchteten im Nirvana dar?“
„Gar nicht“, erläuterte der Mönch. „Das Nirvana ist das absolute Nichts.“
„Das ist es!“
Die Aufregung brachte Leonard aus dem Gleichgewicht. Mit Mühe hielt er sich auf der Leiter.
„Das Nichts. Im Nirvana gibt es keinen Buddha mehr. Es ist eine der leeren Nischen.“
In der näheren Umgebung der neun Wächter gab es an die zwanzig leere Nischen. In der ganzen Wand mochten es fünfzig oder sechzig sein. Aber nur eine Stelle kam infrage. Die Umkehrung der Symbolik, dachte Leonard. Wenn sie das Licht meinten, nannten sie es Dunkelheit. Deuteten sie abwärts, zeigten sie nach oben. Ein Zacken des Sterns, den die neun Buddhas bildeten, wies zur Decke des Ganges. Und in seiner Linie, drei Reihen darüber, befand sich eine leere Nische. Es gelang ihm nicht, sie mit der Hand zu erreichen. Selbst Ruud, der einen Kopf größer war, musste dazu auf den Zehenspitzen balancieren. Mit ausgestrecktem Arm, ohne hineinsehen zu können, tastete er in der Aushöhlung herum.
„Und?“
„Passend zum Nirvana. Hier ist nichts.“
Dann fasste er das Ende seiner Taschenlampe und drückte sie gegen die rückwärtige Wand der Nische. Plötzlich klackte es hinter dem Umgang. Ein weiteres Mal zu ihren Füßen. Der Boden zitterte. Sekunden der Stille und dann hörten sie ein leises Gurgeln.
„Was ist das?“, fragte Leonard erstaunt. „Wasser?“
An einer Stelle in der Wand, dicht über den Boden verfärbte sich der rötliche Putz dunkel, in der Form eines Rechteckes. Eine schmierige, schwarze Substanz quetschte sich schmatzend durch haarfeine Risse. Unvermittelt rutschte das ganze, verfärbte Rechteck nach innen. Nahezu geräuschlos verschwand ein massiger Steinquader in der Wand. Die Öffnung erlaubte es, hindurch zu kriechen.
„Wahnsinn. Das ist der Wahnsinn!“, jubelte Ellen. „Wir, nein, du. Du hast es geschafft!“
Sie warf sich an Leonards Hals und bedeckte sein Gesicht mit Küssen.
„Es ist extrem feiner Sand, mit Wasser gemischt“, sagte Namdring, als er das Schmiermittel untersuchte. „Höchst erstaunlich. Die Pyu waren, was die Wasserbautechnik angeht, ihrer Zeit weit voraus. Aber diese Mechanik ist eine absolute
Weitere Kostenlose Bücher