Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Hand nicht mehr herausziehen können. Und vergiftet ist er sicher auch noch.“
Ellen stieß die Luft aus ihren Lungen.
„Aber immerhin beweist es eines. Sie haben die richtige Wahl getroffen.“
Mit einem zweiten Knochen stupste Namdring den Götzen an. Die steinerne Gestalt knickte nach hinten. Wieder hörten sie ein Klacken und kurz darauf das Gluckern hinter der Wand wie zuvor. Vor ihnen senkte sich ein zwei Meter langes Stück des Bodens ab. Es verzog sich wie das Schiebedach eines Autos in die Innenwand, auf die gleiche Weise von schwärzlichem Schlamm geschmiert.
„Einfach genial“, sagte Namdring, von der Technik beeindruckt. „Es gibt hier im weiten Umkreis keine Brunnen. Sie müssen sich das Wasser des Irrawaddy dafür nutzbar gemacht haben.“
„Verdammt“, keuchte Leonard. „Ich hoffe, ihr seid schwindelfrei.“
Direkt hinter der Öffnung führte eine glatte Rampe steil hinunter. Gerade breit genug für eine Person und ohne Geländer. Ihr unteres Ende verlor sich im Dunkeln. Zu beiden Seiten der Rampe drohten Abgründe.
„Der Tempel des Thian-o-Li“, sagte Ellen ergriffen. Ihre Forscherseele brannte. Als erste stieg sie vorsichtig hinab, das tänzelnde Licht ihrer Lampe voraus gerichtet.
„Haltet Abstand. Wenn der Hintermann stürzt, reißt er die anderen sonst mit.“
„Vorausschauend, die Miss“, sagte Namdring belustigt und gestattete Leonard den Vortritt. „Und mutig. Beides zusammen gibt es selten bei einer Frau.“
Gab es auch selten bei Männern, dachte Leonard, als sie sich langsam hinunter tasteten. Der säuerliche Modergeruch verging zunächst, je weiter sie nach unten kamen, verstärkte sich jedoch wieder, als Ellens Taschenlampe endlich das Ende der Rampe erfasste. Die Dunkelheit erlaubte keine räumliche Orientierung und ihr vorsichtiges Absteigen, einen Fuß vor den anderen setzend, verwirrte das Zeitgefühl. So konnte Leonard, als sie die untere Ebene erreichten, den Höhenunterschied zur Oberfläche nur schätzen.
„Es müssen mindestens zwanzig Meter sein.“
Damit senkte sich das alte Heiligtum ebenso tief in die Erde, wie sich der Tempel darüber erhob. Im Gegensatz zum massiven Überbau erwartete sie unten nur eine Halle. Sie maß zehn mal zwanzig Meter, überspannt von einem Rundgewölbe, dessen höchster Punkt sich nur knapp drei Meter über dem Boden befand.
Sie waren nur schwer zu erkennen und Leonard erschrak, doch sein Warnruf kam zu spät. Bereits schräg in der Luft hängend, schrie Kaih auf. Mit einem raschen Griff bekam Namdring ihn am Oberarm zu fassen und hielt ihn. Kaihs linkes Bein steckte in einem brunnenartigen Schacht. Vorsichtig zog Namdring den Fahrer wieder heraus.
„Sie sind hier überall“, rief Leonard.
Im Boden zeigten sich Dutzende dieser tückischen Schächte, die gefräßigen Öffnungen weit genug aufgesperrt, ein Kalb zu verschlingen. Es gluckste am Grund und ihnen entstieg der säuerliche Modergeruch.
„Das ist kein Grundwasser.“
Nun auf die Todesfallen im Boden achtend, setzte Ellen die Untersuchung des Gewölbes fort. Aus Angst, Unheilvolles könnte den tödlichen Brunnen entsteigen, wagte sich Kaih keinen Schritt mehr vor.
„Meine Güte“, keuchte Ellen. „Er ist geradezu ... monströs.“
Ihre Hand zitterte. Das Licht ihrer Taschenlampe zuckte wie Feuerschein über ein Relief. Es bedeckte die Stirnwand der Halle, die der Rampe gegenüberlag. Die anderen überfiel der gleiche Schauer. Der Buddha war im üblichen Lotussitz abgebildet, seine Augen aber standen offen, Zornesfalten durchzogen die Stirn, zwischen den geöffneten Lippen schimmerten zwei Zahnreihen.
„Der Schwarze Buddha“, entfuhr es Leonard.
„Es ist also wahr.“
„Was meint ihr?“, fragte Ellen erstaunt. Ohne darauf einzugehen, fing der Mönch an zu murmeln, die Augen starr auf das furchtbare Wandbild geheftet.
„Denn seht! Dies ist nicht der Buddha. Dies ist die dunkle Seite des Erleuchteten, der das Grauen und die Sünde auf sich zog. Er ist der Schatten des Buddha, der auf ewig in der Finsternis ausharrt. Er, dem das Böse einen grausamen Zug in das Antlitz gebrannt hat.“
Hinter ihnen erklang Schluchzen. Von den düsteren Worten des Mönches erschüttert fiel Kaih auf die Knie. In tiefer Verzweiflung hielt er das Gesicht mit den Händen bedeckt.
„Jetzt macht ihr mir aber Angst“, flüsterte Ellen. „Was soll das heißen: die dunkle Seite des Erleuchteten?“
„Vielleicht ist dieser Kult so was wie bei uns die Satanisten“,
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