Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
antwortete Leonard leise. „Und das da so eine Art Anti-Buddha.“
„Nein, die Sache ist etwas verwinkelter“, sagte Namdring und erklärte, er habe soeben ein uraltes, geheimes Mantra zitiert. Dabei zeigte er auf den Boden, zur Linken des Reliefs, auf eine in die Wand eingelassene Steintafel. Sie glich der Stele auf der Fotografie. Die Erste der Drei.
„Dieser Kult beruft sich auf eine mythische Reise des Buddha an den Anfang der Zeit. Auf der Suche nach der Ursache der Begierde. Und er brachte von dort die Erkenntnis mit, dass diese Suche nach der letzten Wahrheit wiederum nur eine Begierde ist. Eine, die die Seele verdunkeln kann.“
Er las das Unverständnis in den stummen Gesichtern.
„Nun, man kann es mehrfach deuten. Sicher aber deutet das Mantra Dinge an, die besser auf ewig in der Dunkelheit verborgen bleiben sollten.“
Verbarg sich mehr dahinter?, fragte sich Leonard. Wenn die Erbauer dieses Gewölbe als das Licht bezeichneten, so schrieben sie auch jener ominösen Reise des Schwarzen Buddha Lichthaftes zu. Es traten hier keine Gegensätze zutage. Es ähnelte dem, was Mister Mahangir über Leben und Tod erzählt hatte. Als er sie als die zwei sich gegenseitig durchdringenden Aspekte der menschlichen Existenz bezeichnete. Worauf aber bezog sich das alles? Gab es Dinge, die finster und strahlend sein konnten, Segen und Fluch? Ja, dachte er. Alle Legenden, die sich um das Auge der Dunkelheit rankten, alles, was er versprach, war beides zugleich. Macht, Reichtum, ewiges Leben.
„Interessant. Die Inschrift ist eindeutig“, sagte Namdring. „Dies ist der Tempel des Thian-o-Li. Sie erwähnt ein göttliches Geschenk, das als Träne des Schwarzen Buddha bezeichnet wird und ... oh.“
„Was?“, fragten Ellen und Leonard aus einem Mund.
„Dieses Artefakt, von dem Sie sprachen. Das in dem Grab liegen soll. Handelt es sich dabei um einen Dolch?“
Da es nach allem ohnehin kein Geheimnis mehr war, bestätigte Leonard es.
„Es heißt weiter, mh-ja, sehr mysteriös, dass der, der die Träne tragen wird, gehen soll, wohin er führt. “
Seufzend stemmte er die Hände in die Hüften.
„Sie haben sich wirklich Mühe gegeben, es möglichst unverständlich auszudrücken. Trotzdem, zusammen mit der anderen Tatsache kann es nur eins bedeuten.“
„Welche andere Tatsache?“
„Diese Inschrift ist zwar auch in Pyu geschrieben. Aber sie trägt ein ungewöhnliches Datum. Sie stammt aus dem Jahre 1388.“
„Aber da waren sie längst ...“, begann Ellen.
„Von der Zeit ausgelöscht, richtig“, vervollständigte der Mönch den Satz. „Der Kult hingegen muss überlebt haben. Diese Inschrift hat jemand sehr viel später hier hinterlassen. Alles deutet auf eins: Das, wohin der Dolch führt, ist nicht hier! Oder besser, es ist nicht mehr hier.“
Die weiteren, vor allem für Ellen enttäuschenden Entdeckungen bestätigten diese Vermutung. Sie fanden Säulen, von denen die Standbilder entfernt waren, Altäre ohne jede Verzierung, leere Tonbehälter. Inschriften an den übrigen Wänden hatte man herausgemeißelt oder bis zur Unleserlichkeit zerkratzt. Nirgends ein weiteres Bildnis und auch Leonards letzte Hoffnung zerstob. Er untersuchte den Boden unterhalb des Reliefs, da er dort, auf der rechten Seite, die dritte Stele vermutete. In der Mitte saß ursprünglich die zweite, jene, die Conley an sich gebracht hatte. Aber auch zur Rechten klaffte eine Lücke in der Wand. Die Dritte fehlte ebenfalls.
Auch Ellen rang mit ihrer Frustration.
„Irgendetwas muss geschehen sein, das die Erbauer veranlasst hat, diese Stätte aufzugeben. Sie haben alles mitgenommen.“
„Wirklich bedauerlich“, stimmte Namdring zu. „Ich hatte Ihnen gewünscht, mehr zu finden.“
Von einer der zerstörten Wandinschriften konnte er noch Bruchstücke entziffern.
„Es scheint, als sei eine alte Prophezeiung der Grund, warum sie diesen geheimen Kultplatz für immer verlassen haben. Sie rechneten offenbar damit, dass er trotz aller Vorsichtsmaßnahmen entdeckt würde. Hier wird ein finsterer Dämon erwähnt, Ra´sa.“
„Die Zeichnung!“, entfuhr es Ellen. „Ra´sa, der Unabwendbare!“
„Ja, das ist einer seiner Namen. Hier wird er als Der Verdunkler bezeichnet. Der die Sicht auf das Künftige verwehrt.“
Er versuchte, mehr zu entziffern.
„Das meiste fehlt. Ich kann nur spekulieren. Die Angehörigen dieses Kultes müssen über besondere Fähigkeiten der Zukunftsdeutung verfügt haben. Sie fürchteten eine Bedrohung.
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