Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
damals nicht, was eine Kamera ist.“ Dann übersetzte er weiter.
„Sie tauchten eines Morgens auf. Er sagt, sein Vater hätte nie die beeindruckende Erscheinung des Anführers vergessen. Die übrigen waren verwahrlost, einer litt an schwerem Fieber, alle gezeichnet von ungeheuerer Anstrengung. Sie marschierten seit Wochen. Aber dieser eine war von erhabener Gestalt. In einer makellosen Uniform, als sei er auf Flügeln hergetragen worden. Ungebrochen, in seinen Augen das Leuchten eines ewigen Feuers. Andere sagten, dieser Mann sei ein Dämon. Seine Beherrschtheit nur eine Hülle und die innere Glut der Widerschein seines kaum gebändigten Wahnsinns.“
Diese Worte beschrieben eindeutig Conley.
„Die Dorfbewohner hörten Schüsse unten im Tal. Am nächsten Tag dann kamen diese Soldaten. Sie sagten, zwei ihrer Gefährten hätten sie bei dem Gefecht verloren. Nun kamen sie in der Absicht herauf, eine Bande Rebellen zu verfolgen, die sich in den Bergen versteckt hätten. Stattdessen aber blieben sie über eine Woche in der Nähe unseres Dorfes. Sie begaben sich auf Erkundungsgänge, an denen sich auch der Anführer beteiligte. Einmal habe man ihn gesehen mit blutverschmierter Uniform. Am Gürtel trug er einen Fetzen menschlicher Haut. Mein Vater sagt, man hätte eine Tätowierung darauf erkannt. Demnach stammte sie von einem Naga-Krieger. Ein Kopfjägervolk. Ihre Nachfahren siedeln heute noch weiter nördlich von hier.“
Von welchem Hautfetzen der Alte sprach, erriet Leonard sofort. Es befand sich immer noch unter den anderen Überbleibseln des Offiziers. Diese abscheuliche Hinterlassenschaft konnte tatsächlich nur das Souvenir eines Wahnsinnigen sein.
„Was geschah dann mit ihnen?“
„Sie wurden nicht mehr lebend gesehen“, setzte Kyiun Thet die Erzählung fort. „Zwei Tage sah und hörte man nichts mehr von ihnen. Aber sie hielten sich noch in der Gegend auf. Dann gab es eines Nachts einen Schusswechsel, ganz in der Nähe. Bis man sie fand, dauerte es aber weitere zwei Tage.“
„Obwohl es ganz in der Nähe war?“
„Es gibt einen Platz hinter dem Dorf, der von den Einheimischen gemieden wird. Heute wie damals. Es steckt eine schauerliche Geschichte dahinter.“
Wie bei anderen zuvor bemerkte Leonard auch im Gesicht des Arztes zwei sich widersprechende Gefühlsregungen. Das merkwürdige Nebeneinander aus Angst vor solchen schauerlichen Geschichten und die ungebrochene Lust, sie auf jeden Fall zum Besten geben zu wollen. Dieselbe Mischung zeigte sich sogleich in Ninis Zügen. Sie reagierte wie ein Kind, das unsagbare Schrecken befürchtete, aber gleichzeitig nicht die Augen abwenden konnte.
Im Jahr 1792 kam ein amerikanischer Missionar in die Chin Hills. Der erste Christ überhaupt, der diese Gegend bereiste. Zu jener Zeit standen die Leute hier jedem anderen Glauben noch feindlich gegenüber. Der Missionar jedoch wollte als erstes eine Kirche bauen und suchte einen geeigneten Platz. In der Absicht, ihm einen Schrecken einzujagen, zeigten die Dorfbewohner ihm eine Stelle, die für sie selbst tabu war. Dort hauste ihrer Legende nach ein übler Dämon in Schlangengestalt. Er neidete den Menschen ihre Gliedmaßen. Füße, mit denen sie aufrecht standen und Hände zum Greifen und Fühlen. Also lauerte der Dämon nachts auf die Unvorsichtigen, die vorbeikamen, und fraß ihre Hände und Füße. Die Dorfbewohner glaubten, der Missionar würde aus Furcht noch in der ersten Nacht fliehen. Doch unerschrocken baute er seine Kirche. Als sie fertig war, lud er alle ein, mit ihm zu feiern. Doch niemand kam. Den ganzen Tag und die halbe Nacht hörte man sein Rufen, die Glocke, die er schlug. Bis beides plötzlich verstummte. Am nächsten Tag fand man ihn, mit einem Strick um den Hals an der Außenmauer aufgehängt. Aus den Stummeln an Armen und Beinen war das Blut die Mauer herabgeronnen. Seine Hände und Füße fehlten. Seitdem traut sich kaum jemand dorthin.
„Genau dort hat man auch die Leichen gefunden“, erriet Leonard.
„Richtig. In der alten Kirche. Das heißt, in den Resten davon. Im Jahr 1888 war davon nur noch eine Ruine übrig. Fünf Männer lagen dort.“
„Fünf? Sagte Ihr Vater nicht, es wären acht gewesen?“
„Der Priester, der Fotograf und der junge Burmese waren verschwunden. Vermutlich sind sie von den Rebellen verschont worden. Die Leichen der Soldaten brachte man dann hierher, um sie in geweihter Erde zu begraben.“
„Und jetzt ist alles verschüttet“, murmelte Leonard. „Es
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