Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Herannahen des Zweiten hatte Arundhavi nur erahnt. Bereit, ihm eine Spritze in den Nacken zu stoßen, schlich sich der Kerl von hinten an. Sein letzter Schritt verriet ihn, das leise Knirschen des Sandes unter den Schuhen. Beide erledigte Arundhavi in weniger als fünf Sekunden. Ein Stoß nach hinten und mit derselben Bewegung, mit der er die Klinge wieder nach vorn führte, verwandelte er sie in ein tödliches Geschoss. Der Teufel mit den gelben Augen hielt noch sein selbstgefälliges Grinsen, als ihm der Stahl in die Brust drang.
Unwichtig, wer sie waren, wie sie auf das Geheimnis stoßen konnten. Das alles würde mit ihnen zu Staub zerfallen. Arundhavi konzentrierte sich auf den Moment. Und der zwang ihn, zu warten. Gedankenverloren betrachtete er, was er dem Engländer gestohlen hatte. Seine Hand glitt über das Fell. An einer Stelle stieß sein Zeigefinger auf einen Widerstand, kaum wahrnehmbar. Zunächst dachte er, es handele sich um einen Wirbel in der Haarstruktur. Als er das nächste Mal über die gleiche Stelle fuhr, spürte er den Widerstand nicht mehr. Er untersuchte das Fell, bog die feinen Haare zur Seite und entdeckte darunter eine Naht. Ein Geheimfach!
Behutsam trennte Arundhavi die Naht auf. Darunter versteckten sich drei Stückchen feines Seidenpapier. Zwei eng mit Buchstaben vollgekritzelte und eine Geländekarte, die Conley bereits einmal in grober Form abgezeichnet hatte. Doch dieses Blatt trug zusätzlich Himmelsrichtungen, Ortsbezeichnungen und Entfernungsangaben. Und statt der acht Landmarken fanden sich hier neun!
Sofort wusste Arundhavi, was es bedeutete. Dem britischen Offizier war es gelungen, den Standort des geheimen Heiligtums zu entschlüsseln. Und mehr noch. Das bewies die Zeichnung des grauenhaften Dämons. Conley hatte ihn gesehen! Besorgt fragte sich Arundhavi, was er selbst vorfinden würde. Diese Sorge verband sich mit einem anderen Rätsel, das zu lösen Arundhavi vor unüberwindliche Schwierigkeiten stellte.
Er betrachtete die Fotografien, das Porträt des Offiziers. Das war ER, den sie in der Trance sahen. Und gleichzeitig auch der andere, Leonard Finney. Ergebnislos verbrachte Arundhavi düstere Stunden damit, diesem Geheimnis auf die Spur zu kommen. Der Kris, mata hitam , und das, was er hütete, verfügte über eine ungeheure Macht. Sie konnte einem Mann die Kraft verleihen, Jahrhunderte zu überdauern, ohne Anzeichen des Alterns. Von Thian-o-Li selbst hieß es, er habe noch den Jüngsten seiner gesamten Sippe um Jahrzehnte überlebt. Obwohl er, als die tote Witwe ihm die Träne des Schwarzen Buddha in der Berghöhle übergab, den Zenit seines Lebens bereits weit überschritten hatte. Aber wenn Conley und Finney ein und dieselbe Person wären, hätte sich das Auge der Dunkelheit in seinem Besitz befinden müssen. Vor Tagen, als er ihn in der Gruft des Thammuyiangi eingeschlossen hatte.
Vielleicht sind wir nur Schatten. Erinnerungen an Dinge, die nie geschehen sind.
Als ihm der letzte Satz des hageren Mannes wieder einfiel, meinte Arundhavi, der Unabwendbare persönlich schnüre ihm die Kehle zu.
War es Conleys verdammter Seele gelungen, aus dem Grab zu steigen? Bemächtigte sie sich des jungen Engländers, um ihre Bestimmung zu ändern? Ihrer aller Bestimmung? Das Grauen, das sich mit dieser Vorstellung verband, lähmte Arundhavi bis in die Tiefe. Es umklammerte ihn mit seinen Klauen und beim ersten Hahnenschrei fuhr er auf, als hätte jemand neben seinem Ohr eine Waffe abgefeuert. Schwer atmend legte er die Fotografien und Notizen zusammen und stopfte alles wieder in das Fell. Als er die Tür der Kammer öffnete, hielt ihn das Entsetzen noch im Griff. Nur deshalb entging ihm der Schatten. Der wuchtige Schlag traf ihn an der Schläfe, er krachte gegen den Türrahmen und sackte bewusstlos zu Boden. Das Holzscheit polterte auf die Dielen und gleich darauf zeterte der alte Dorfvorsteher wütend los.
„Er soll den Rand halten, verdammt“, fluchte Leonard. „Ich weiß, dass es eine Todsünde ist, einen Mönch zu schlagen. Nini! Sag ihm, das ist kein Mönch.“
Er drehte Arundhavi auf den Rücken. Dann zog er das safrangelbe Gewand herunter und legte die Rückentätowierung frei. Auf der Stelle verstummte der Dorfvorsteher. Zusammen mit Ellen band Leonard Arme und Beine des Bewusstlosen, zog ihn in die Kammer und wuchtete ihn auf das Bett. Leonard durchsuchte den Beutel, nahm das Fell mit den Papieren und das Geld. Die Kreditkarte hielt er dem Dorfvorsteher hin und
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