Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
Vom Netzwerk:
dichten Baumkronen verdeckten die Sterne. Leonard schlingerte in einen Halbschlaf, begleitet von Ninis leisem Gemurmel.
Wie mochte sie sich fühlen? Fürchtete sie, in diesem verschlungenen Vorgarten der Hölle spukten noch grauenvollere Gestalten herum als in den Wäldern ihrer Heimat? Woher nahm sie ihren Willen? Ihre Eltern hatten sie verkauft. Sie folgte einer fremden Herrin, bis der Tod sie trennte. Nun folgte sie, die Entwurzelte, ihm. In ein fremdes Land, einem unbekannten Schicksal entgegen. Und er war selbst ein Entwurzelter. Die grünen Wiesen, die klaren Flüsse seiner eigenen Heimat verblasst wie eine Fotografie längst vergessener Zeit. Und Manao? Auch er hatte seine Eltern verloren und mit ihnen das Leben in der Wildnis, die einmal seine Mitte gewesen war.
Was blieb ihnen allen? Für einen Moment glaubte Leonard, sie würden sich im Dunkel der Nacht einfach auflösen, sich mit ihr, mit dem Wald vereinen. Um wie die verwesenden Leichen in den Boden zu sickern oder gestaltlos geworden vom nächsten Windstoß davon geweht zu werden.
Ein entsetzliches Ächzen schreckte ihn auf, das Kreischen einer gemarterten Kreatur. Ihm folgte ein explosionsartiger Donner, trocken, ohne Nachhall, sofort wieder verstummend. Das Gezetere der Nachttiere stockte für eine oder zwei Sekunden. Dann setzte es wieder ein, als habe jemand einen Schalter betätigt.
„Was war das?“, hörte er Ninis angstvolle Stimme.
Lauschend wartete er, ob Manao sich meldete. Doch ihr Führer blieb stumm. Er konnte es nicht überhört haben. War er fort?
„Ich weiß nicht, Nini“, flüsterte Leonard, suchte nach Worten der Beruhigung und fand keine. Die Vorstellung, der Dayak könnte das Weite gesucht haben, trocknete ihm den Mund aus.
Bis zum frühen Morgen hielt ihn die Sorge wach, umsonst, wie sich herausstellte. Manao schlief fest in seiner Hängematte und Leonard musste ihn kräftig rütteln, damit er aufwachte. Den Krach hatte er tatsächlich überhört. Er konnte neben der Startbahn eines Großflughafens schlummern.
„Es wird ein Baum gewesen sein“, sagte er schläfrig. „Einer von den Riesen. Irgendwann sterben auch sie ab. Wenn das Holz dann morsch genug ist, fallen sie einfach um. Es stimmt. Es hört sich an wie Kanonendonner. Sie schlagen eine gewaltige Schneise.“
Vor ihrem Aufbruch in die Wildnis hatte sich Leonard die bevorstehenden Gefahren ausgemalt. Sie gingen von Raubtieren aus, Wildkatzen, Giftspinnen, Schlangen und Krokodilen. Bäume zählten bisher nicht dazu. Ninis allgegenwärtige Angst vor der Nacht wurde nun noch um die erweitert, im Schlaf von einem der Riesen zermalmt zu werden.
Der Kampf gegen die grüne Wand, durch die sie sich schlugen, zehrte an ihren Kräften. Das stumpfsinnige Marschieren durch Matsch, dornenbewehrtes Gestrüpp und reißende Wasserläufe, das mühselige Kriechen die ersten Anhöhen hinauf höhlte ihr gesamtes Empfinden aus, zerstob jedes Gefühl für Zeit. Keiner von ihnen konnte sagen, ob drei oder vier Tage vergangen waren, als sie ihnen begegneten. Der Trupp befand sich auf der Jagd. Untersetzte Männer, bekleidet mit Lendenschurz, die Körper zur Tarnung mit Lehm verschmiert, in den Händen ihre Blasrohre. Sekundenlang taxierten sich beide Gruppen reglos und ohne Worte, bis Manao die Männer in ihrem Dialekt ansprach. Selbst ihm fiel es schwer, einzuschätzen, ob sie ihnen freundlich oder feindselig gegenüberstanden. Alle fühlten die knisternde Anspannung.
„Es ist in Ordnung“, erklärte Manao leise. „Sie stammen aus dem Dorf. Es ist in der Nähe.“
Leonard erinnerte sich an die Geschichten über die Kopfjagd.
„Haben wir was zu befürchten?“
„Schwer zu sagen. Ob wir willkommen sind, hängt von dem tuai ab, ihrem Oberhaupt.“
Bis auf zwei verschwanden die Männer nach der kurzen Unterhaltung wieder im Dickicht.
„Sie setzen die Jagd fort.“
Die Verbliebenen führten sie auf einem für das ungeübte Auge kaum erkennbaren Pfad das absteigende Gelände hinunter. Das wilde Aussehen der Jäger verleitete Leonard zu der Annahme, der Stamm wäre kaum, wenn überhaupt, mit der Zivilisation in Berührung gekommen. Das Dorf bestand nur aus vier Langhäusern, auf hohen Stelzen längs eines Flusslaufes errichtet. Jeder der fünfzig Meter langen und zehn Meter breiten Holzbauten beherbergte mehrere Familien. Insgesamt lebten an die dreihundert Dayak in der Siedlung. Die Ankömmlinge bahnten sich den Weg durch frei umherlaufende Schweine, Hühner und Hunde, auf das

Weitere Kostenlose Bücher