Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
Vom Netzwerk:
anderen fehlten Körperteile, das Werk von Aasfressern. Nini schrie auf und klammerte sich an Leonard, weil sie meinte, eine der Leichen hätte sich bewegt. Manaos Begründung setzte ihr einen noch heftigeren Schrecken ein.
„Dieses Zucken stammt von den Maden. Sie fressen sich unter der Haut durch die Eingeweide.“
„Was ist hier passiert?“
„Es gibt Stämme, die keine Bestattungsriten haben. Also legen sie Toten einfach irgendwo ab. Der Wald gibt es, der Wald nimmt es.“
„Ein Friedhof?“
Im ersten Moment zeigte sich der junge Dayak-Führer noch kaltschnäuzig. Nun suchten seine Augen nervös die Umgebung ab.
„Wir sollten hier schnell verschwinden“, flüsterte er. „Diese Orte sind pali .“
„Sind was ? “
„Tabu. Man darf sie nicht betreten. Die Eingeborenen reagieren empfindlich, wenn man solche Verbote missachtet.“
Sie beeilten sich, den schauerlichen Ort hinter sich zu lassen, die Augen vor ihre Füße geheftet. Beherrscht von der Furcht, im nächsten Moment in eine Leiche hineinzutreten. Für die nächsten Stunden schwiegen sie. Durch das Erlebnis büßte Manao seinen Hang für grobe Witze ein. Die Toten riefen in dem jungen Dayak seine Herkunft wach.
    Als Manao sich vorgestellt hatte, in Bang Tuas Bretterbuden-Gasthaus, erschien er Leonard als bemerkenswert aufgeschlossener Bursche. Wenn er nicht ebenso bemerkenswert winzig gewesen wäre, kaum von einem durchschnittlichen Malaien zu unterscheiden. Er trug Freizeitkleidung nach westlichem Vorbild, hielt Sonnenbrillen für lebensnotwendig und kannte sich in den Hitlisten des aktuellen Popmusik-Universums aus. Elternlos war er seit dem zehnten Lebensjahr in einer christlichen Missionsstation aufgewachsen. Dort erlangte er auch seine überdurchschnittliche Bildung. Mit seiner Tätigkeit als Dschungelführer versuchte Manao, genug Geld für ein Studium zusammenzukratzen.
Jeden nahm er mit seinem fröhlichen Wesen ein, trotz der überzogenen Witzeleien. Oft genug waren die Ureinwohner des Landes die Opfer seines Spotts. Dass er die ersten zehn Jahre seines Lebens ebenfalls im Lendenschurz durch den Dschungel gelaufen war, verdrängte er. Leonard glaubte, die Streifzüge, auf denen er ausländische Touristen führte, hätten ihn nicht allzu weit hineingeführt in das Dickicht, dem er entstammte. Hier draußen, Tagesreisen vom letzten Außenposten entfernt, schlugen die Toten in ihm eine Glocke an. Und sie fand Gehör, durch die zähe Masse hindurch, die seine Seele verklebte und die er als Zivilisation betrachtete. Diesen Klang begleitete ein noch dunklerer Ton. Er vibrierte in dem, was er angesichts der Verwesung nur leichtfertig dahin gesagt hatte, im Glauben, es beträfe ihn nicht. Ein Irrtum, wie er nun begriff.
Der Wald gibt es, der Wald nimmt es.
Auch ihm hatte der Dschungel einst das Leben geschenkt, und er würde es wieder zurückfordern.
    Die bedrückende Stimmung hielt sie noch gefangen, als sie ihr erstes Nachtlager aufschlugen. Wegen der vorangegangenen Regenfälle fanden sie kein trockenes Holz für ein Feuer. Ihre letzte Mahlzeit in der rasch voranschreitenden Dämmerung bestand deshalb nur aus Früchten, Nüssen und rohem Gemüse. Einiges davon sammelte Manao in der näheren Umgebung. Die essbaren von den giftigen Pflanzen zu unterscheiden, fiel ihm leicht. Ein Erbe seiner wilden Vergangenheit. Bevor die Nacht hereinbrach, spannten sie die Hängematten auf und schlugen die Moskitonetze darüber. Mit der Dunkelheit setzte das Nachtkonzert der Urwaldbewohner ein. Kraftvoller und vielstimmiger als in den burmesischen Wäldern. Darunter mischte sich Klappern und Singen, das stetig näher kam. In blankem Entsetzen wimmerte Nini vor sich hin. Für sie gab es nur eine Erklärung: Die madenzerfressenen Leichen kamen, um sie zu holen.
„Stachelschweine“, flüsterte Manao. Nur einen Meter von Leonard entfernt schaukelte er in seiner Matte, blieb in der absoluten Finsternis aber unsichtbar. Wie die Biester, deren aneinanderreibende Hornstachel das zweistimmige Geräusch erzeugten. Direkt unter ihnen wuselten sie durch das Unterholz. Leonard wunderte sich, wie das Gefühl der Angst allein von der Tatsache befeuert wurde, dass man nicht sehen konnte, was diese beklemmenden Töne hervorrief. Selbst wenn man die Ursache kannte.
„Hört sich gruselig an, oder?“, hörte er noch einmal Manaos Stimme. „Sie sind harmlos. Wenn ihr sie nicht mehr hört, ist was wirklich Gefährliches in der Nähe.“
Die Schwärze umgab sie, die

Weitere Kostenlose Bücher