Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
den nüchternen Beamtenjargon.
„Es gibt Ungereimtheiten. Sie hatte eine Schwimmweste angelegt. Allerdings unsachgemäß. Ich meine, ungeeignet, um sich damit ...“
Hüstelnd fischte er nach einem Wort.
„... ordnungsgemäß über Wasser zu halten.“
„Es ist auf dem Schiff passiert?“
„Sieht ganz so aus. Eine überstürzte Flucht. Als hätte sie sich im letzten Moment in Sicherheit bringen wollen. Um so merkwürdiger ist dies.“
Aus einer Schublade holte der Beamte einen Beutel hervor. Ein wasserdichter Plastikbehälter, in dem sich eine Kamera befand. Caitlin erkannte sie sofort. Es war ihre eigene. Da Vicky sich von ihrer Fahrt aufregende Bilder erhoffte, hatte sie den Fotoapparat mitgenommen. Der Beamte sprach Caitlins Gedanken aus.
„Sie springt von Bord und das einzige, was sie mitnimmt, ist diese Kamera?“
Tränen drohten aus ihr herauszubrechen. Vicky hatte ihren ganzen Kram liegengelassen, Geld, Ausweis, Flugticket. Aber sie wollte nicht ihrer Freundin gegenübertreten ohne die Kamera, die ihr anvertraut worden war. In dem Punkt hatte sie sich immer als zuverlässig erwiesen.
„Der Name des Schiffes stand auf der Schwimmweste“, sagte der Beamte. Inzwischen bemühte er sich um einen sanften Tonfall.
„Lingard. Ist es das, mit dem Ihre Freundin herkommen wollte?“
„Ja. Ganz sicher. Es hieß Lingard.“
„Und die Leute, mit denen Miss Paillin unterwegs war?“
Als sie die Namen nannte, stutzte der Beamte. Sofort griff er zum Telefon und tippte eine Kurzwahlnummer.
Der Constabler bezog wieder Wache neben der Tür. In Gedanken versunken schob Inspector Sung die Gegenstände auf dem Tisch umher. Leonards Brieftasche, die Mietwagenschlüssel und der Stadtplan, auf dem die Position seines Hotels markiert war. Leonard gab es auf, von Sung eine Erklärung zu erwarten, warum er noch bleiben sollte. Alle Bullen liebten es, geheimnisvoll zu tun.
„Komischer Zufall“, murmelte der Inspector.
Bevor Leonard auf die Äußerung eingehen konnte, öffnete sich die Tür. Ein Zivilbeamter trat ein und mit ihm eine junge Frau. Attraktiv, sonnengebräunt, mit schulterlangem, hellbraunen Haar. In ihrem Gesicht saß ein tiefer Schmerz. Darunter mischte sich jetzt eine Spur Entsetzen. Für Sekunden saugte sich der Blick des Mädchens an dem Blutfleck auf Leonards Hemd fest. Erst Inspector Sungs Worte holten die junge Frau aus der Starre.
„Das ist Mister Finney.“
Ihre Reaktion überrumpelte alle. Unvermittelt schoss sie auf Leonard zu, trommelte mit beiden Fäusten auf seine Brust und schrie ihn an.
„Was haben Sie mit Vicky gemacht? Was hat Sie Ihnen getan? Sie ...“
Schluchzend klappte Caitlin in die Knie. Der Zivile fasste ihre Schultern und bugsierte sie auf einen Stuhl.
„Beruhigen Sie sich, Miss Libovitz! Er hat nichts damit zu tun!“
Leonard überwand den kurzen Schrecken, den ihr Angriff ausgelöst hatte und wandte sich verärgert an den Inspector.
„Hören Sie mit Ihrer verdammten Heimlichtuerei auf. Was soll das? Wer ist dieses Mädchen? Ich sehe sie zum ersten Mal.“
„Ich weiß. Ich weiß. Entschuldigen Sie.“
Auf chinesisch gab Sung seinem Kollegen eine kurze Order. Der Zivilbeamte übernahm. Dabei redete er wie ein Protokollheft.
„Die Leiche ihrer Freundin ist von einem Fischer im Meer treibend aufgefunden worden. Die Indizien sprechen für ein Gewaltverbrechen. Allem Anschein nach geschah es auf einem Schiff mit dem Namen Lingard!“
Der Schlag traf Leonard härter als die Fäuste des Mädchens.
„Die Yacht Ihrer Eltern“, sagte Inspector Sung.
Wie eine Serie von Hieben prasselten die Einzelheiten über die rätselhaften Umstände auf Leonard ein. Unter der Wucht sackte er zusammen.
„Schussverletzung ... Schnellfeuerwaffe ... großes Kaliber ... auf hoher See angegriffen ... Schiff spurlos verschwunden ... keine Meldung ... Suche ergebnislos abgebrochen.“
Die Worte, die Wut des Mädchens, der Tod ihrer Freundin ballten sich zu einem Schatten, den eine Ahnung vorauswarf. Seine Eltern würde er nie wiedersehen. Was Doktor Pathom das Leben gekostet hatte, war auch über die Lingard hergefallen. Und gleichzeitig zwang es Leonard, mit dieser Ahnung zu leben. Das Mädchen wusste wenigstens, grausam genug, dass ihre Freundin tot war. Ihn sollte nun zeitlebens die brutale, mathematische Wahrscheinlichkeit quälen, getränkt mit der bitteren Medizin einer sich nie erfüllenden Hoffnung. Das Schicksal missgönnte ihm noch die Wärme einer letzten Berührung.
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