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Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Das Auge der Dunkelheit (German Edition)

Titel: Das Auge der Dunkelheit (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Daniel Dekkard
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Vor einem Jahr, am Vorabend ihrer Abreise, hatten sich Martha und Evan von den Freunden verabschiedet, die ihnen noch verblieben waren. Eine fröhliche Feier, ohne Wehmut. Dort, in einer milden Frühlingsnacht in England, verschwanden sie für immer aus seinem Leben. Und hier saß er neben der Letzten, die sie noch gesehen hatte. Eine Fremde, eine amerikanische Studentin aus San Diego, Kalifornien.
„Wir haben sie in Kuching getroffen“, sagte Caitlin. Sie vermied es, ihn direkt anzusehen. Ihre Augen huschten nur manchmal über ihn hinweg wie das Licht eines Leuchtturms.
„Das ist in Sarawak“, ergänzte das Protokollheft. „Auf Borneo. Ost-Malaysia.“
„Sie wollten hierher, nach Singapur. Vicky und ich hatten das gleiche Ziel. Sie luden uns ein auf ihre Yacht. Vicky war sofort Feuer und Flamme. Sie hatte immer von sowas geträumt. Auf einem Segelschiff über das Meer und so. Also haben wir uns getrennt. Weil ich ...“
Sie zupfte an ihrem Kleid herum, in der Höhe ihres linken Oberschenkels.
„Ich fliege lieber.“
„Wann sind sie dort aufgebrochen?“, fragte Leonard.
Caitlins Miene enthielt nur Vorwurf. Er vermutete, dass sie sich eine Projektionsfläche für ihre Trauer suchte. Jemanden, dem sie die Schuld am Tod ihrer Freundin geben konnte. Oder wenigstens einen Teil der Verantwortung. Es war auf dem Schiff seiner Eltern geschehen. Das genügte ihr, um ihn in diese Rolle zu drängen. Auf eine andere Weise ging es ihm ähnlich. Der Zeitpunkt des Aufbruchs in Kuching war völlig belanglos. Wie die junge Frau wollte Leonard verhindern, sich im Schmerz zu verlieren. Deshalb suchte er alles über die letzten Stunden oder Tage seiner Eltern zu erfahren. Die Beschäftigung mit der Vergangenheit ertrug er leichter als die Gegenwart des Todes.
„Ich weiß es nicht genau“, sagte Caitlin, „Ich habe später noch einmal mit Vicky telefoniert.“
Mühsam unterdrückte sie einen drohenden Tränenausbruch.
„Sie sagte, die Abfahrt verzögert sich noch. Um ein oder zwei Tage. Weil Mister und Misses Finney jemanden gesucht haben. Jemanden auf einem anderen Schiff.“
„Wissen Sie davon, Mister Finney?“, fragte Inspector Sung.
„Nein. Keine Ahnung.“
Nur eine halbe Lüge. Der Gesuchte musste der Schamane sein, den sie im Brief erwähnt hatten. Von einem Schiff stand dort jedoch nichts.
„Vielleicht hilft uns das hier weiter.“
Der Zivilbeamte legte einen Umschlag auf den Tisch. „Wir haben den Film in der Kamera entwickelt.“
Zuerst inspizierte Inspector Sung die Bilder und schob sie nach kurzer Ansicht eines nach dem anderen Leonard zu. Ein Dutzend zeigte Caitlin und andere Rucksacktouristen auf einem Dschungel-Trek. Es folgten Fotos einer Stadt, ein Markt, ein Tempel, die beiden Freundinnen zusammen mit einem malaiischen Taxifahrer. Dann das erste, das Leonard einen Stich versetzte. Evan, Martha und die beiden Mädchen, von einem Passanten aufgenommen. Alle lachten in die Kamera. Auf Papier gebanntes Glück, längst aus der Welt verschwunden. Die nächsten, allesamt auf oder vor der Lingard aufgenommen, waren erst nach Caitlins Abreise entstanden. Eines rührte ihn zutiefst. Seine Eltern standen vor der Kabine der Yacht. Sein Arm lag auf ihrer Schulter, sie hielt ihn an der Hüfte umschlungen. Ihr Lächeln galt weniger der Kamera als ihnen selbst. Sie erweckten den Anschein, mit sich im Reinen zu sein, wie Verliebte, denen die ganze Welt offenstand. Sie fühlten sich sicher . Ein Eindruck, den das letzte Bild vollständig vernichtete. Flüchtig betrachtet mutete es harmlos an wie ein verunglückter Schnappschuss. Vermutlich hatte Evan das Foto gemacht, denn darauf waren nur die Gesichter von Martha und Vicky zu sehen. Allerdings drückte Evan sie in die unterste, linke Ecke. Lediglich ihre Köpfe ragten ins Bild, als schauten sie hinter einer Mauer hervor. Dahinter fror die Aufnahme die Bewegungen von Hafenarbeitern ein. Zwischen ihnen eine Gestalt, die dort nicht hinpasste. Ein Chinese, hochgewachsen, in einem schwarzen Anzug. Sein Gesicht teilte sich in unterschiedliche Hälften, als gehörten sie zwei verschiedenen Personen. Magnetisch zog der Verunstaltete den Blick des Betrachters an. Erst nach einer Weile fiel Leonard das Objekt auf, das den gesamten Hintergrund ausfüllte. Am Kai vertäut lag ein rostiges Frachtschiff. Sein Name, stumpfgrün auf den Bug gepinselt, drängte sich vor: Nalanda Star
Es war kein verunglückter Schnappschuss. Evan hatte den Ausschnitt mit Absicht

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