Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
Inspector Sung ohne sichtbare Regung auf. Meinte der Ausländer mehr damit, als nur Verdächtiger in einem Mordfall zu sein?
„Doktor Pathom war ein Bekannter meiner Eltern“, fügte Leonard hinzu. „Ein guter Bekannter, vermute ich. Er machte sich Sorgen, weil sie noch nicht wie geplant in Singapur eingetroffen sind. Und das tue ich, ehrlich gesagt, auch.“
„Verstehe“, sagte Inspector Sund nur, zupfte ein einzelnes Blatt aus dem Bericht und las ruhig vor.
„Doktor Prachanarat Pathom, fünfundsechzig Jahre alt, Familie stammt aus Thailand, lebt aber schon seit zwei Generationen in Singapur. Historiker, mehrere Publikationen über die Mythologien Südostasiens.
Sung brach ab. Er entdeckte auf dem Blatt einen Hinweis.
„Womit, Mister Finney, waren Doktor Pathom und Ihre Eltern genau beschäftigt?“
„Auch das hoffte ich bei dem Treffen zu erfahren“, erwiderte Leonard. „Aber es gibt anscheinend jemand, der genau das verhindern wollte.“
„Wie meinen Sie das?“
„Der Doktor wurde bedroht. Er sagte, man habe versucht, ihn zu entführen.“
Das erklärte die älteren Verletzungen des Doktors, dachte Inspector Sung.
„Was immer er mir sagen wollte, hat ihn das Leben gekostet. Wer ihn getötet hat, bedroht jetzt meine Eltern.“
Aufmerksam beobachtete Inspector Sung seinen Gefangenen. Die Mimik der Weißen war leichter zu deuten. Säße ihm ein Chinese oder ein Malaie gegenüber, würde er Stunden brauchen, um in den Gesichtern zu lesen. Mit unbeweglichen Augen und starren Muskeln konnten sie im gleichen Tonfall lügen oder die Wahrheit sagen. Die Kunst bestand darin, den nadeldünnen Grat zu entdecken, der beides trennte. In dieser Beziehung war Finney ein offenes Buch. In seinem Verhalten entdeckte Sung keine Spur von Falschheit. Nur die nackte Tatsache, dass er neben der Leiche aufgefunden wurde, sprach für seine Schuld. Vielleicht war selbst dieser letzte Verdachtsmoment noch ein Beweis für seine Unschuld. Wenn er den Mann nur töten wollte, warum blieb er bei dem Sterbenden, statt sofort im Dunkel zu verschwinden? Raubmord war auszuschließen. Weder beim Toten noch bei Finney entdeckte man Wertsachen. Die Tatwaffe blieb unauffindbar. Sie derart gründlich zu verstecken, wäre dem Engländer unmöglich gewesen. Das Ganze roch nach einem professionellen Killer, ein gut ausgebildeter, ein Lautloser . Mit einer zackigen Geste wies Sung den Constabler an, die Handschellen abzunehmen. Im gleichen Moment schrillte das Telefon. Der Detective Inspector sprach mit jemandem auf chinesisch, aber deutlich hörte Leonard mindestens dreimal seinen Namen aus dem Gespräch heraus. Nachdenklich legte Sung den Hörer wieder auf die Gabel.
„Ich muss Sie bitten, noch ein wenig zu bleiben.“
Die Worte klangen metallisch, nach Handschellen, die wieder zuschnappten.
„Jemand hat auf sie geschossen?“
Caitlin rang mit ihrer Fassung. Enervierend lange kramte der Beamte in Papieren herum. Erst nach zwei Minuten fand er, was er suchte.
„Mmh, ja, vielleicht nicht direkt“, sagte er schließlich.
Ihre Hände zitterten. Sie wollte aus der Haut fahren.
Wie schoss man vielleicht nicht direkt auf jemanden? Die Trauer bremste Caitlin.
„Das Projektil ist dicht unter der Haut steckengeblieben“, erklärte der Beamte.
„Und es war auf eine bestimmte Weise verformt. Wir nehmen an, es war ein Querschläger.“
„Was bedeutet das?“
„Nun, man spricht von einem Querschläger, wenn ...“
„Nein. Ich meine ...“, fuhr Caitlin dazwischen. „Ich weiß, was ein Querschläger ist, verdammt!“
Ihre Trauer sackte weg und machte Platz für Wut über diesen umständlich daherredenden Beamten. Sie suchte ein Ventil. Schlimm genug, dass Vicky im Leichenschauhaus lag. Ein Unglück, wie Caitlin geglaubt hatte. Jetzt gab es jemanden, eine bestimmte Person, die Schuld an ihrem Tod war. Nur ein Tier wäre dazu fähig. Sie fühlte wieder die kalte Mordlust des Hais. Das Grauen, als er umkehrte, durch die Schlieren ihres Blutes im Wasser wieder heransauste, um sie zu töten. Mehr noch verstörte sie die plötzliche Einsicht, dass es Menschen gab mit den gleichen Augen wie dieser Mako. Die töten wollten! Die Vorstellung übergoss sie mit Ohnmacht, ihr Aufbäumen lief ins Leere, die Wut verdampfte.
„Was ist mit ihr geschehen?“, fragte sie leise, den Tränen nah.
„Ich wünschte, wir könnten ...“, begann der Beamte unbeholfen. Der Umgang mit Trauernden gehörte nicht zu seinen Stärken. Er rettete sich in
Weitere Kostenlose Bücher