Das Auge der Dunkelheit (German Edition)
immer wieder durch die Haare, ein angenehmes Kribbeln erzeugend. Friseure wussten alles. Leonard wagte einen Versuch.
„Gibt es hier in der Gegend ein Gebäude, das man das Gelbe Haus nennt?“
„Verzeihung. Gelbes Haus?“
„Ja. Rumah kuning. “
Als er den malaiischen Ausdruck benutzte, veränderte sich der Gesichtsausdruck des Barbiers. Seine Stimme bekam einen ähnlichen Klang wie die des Taxifahrers, der Leonard vor dem Zimmer 300 gewarnt hatte.
„Oh“, machte er mit spitzen Lippen. „Böse Geschichte.“
„Erzählen Sie sie mir.“
Die Augen des Barbiers stocherten herum wie bei einem Dieb, der sich von Polizisten umzingelt glaubte.
„ Tidak mau “, flüsterte er. „Es kommt sonst her.“
Meinte er, das Böse komme hierher? Aber genau dieser abstruse Gedanke erschütterte ihn. Aus einem anderen Grund.
Der weise Sen Hoa fügte die drei Teile zusammen. Die Hauptarbeit zur Dechiffrierung hatte Leonard Finney bereits geleistet. Sogar mit seiner Vermutung richtig gelegen, alle Blättchen seien fortlaufend nummeriert, mit jeweils um den Faktor drei erhöhten Ziffern in den Ecken. Noch einmal gab der Weise seinem Erstaunen Ausdruck.
„Ein ungewöhnliches Talent. Seid Ihr sicher, dass Ihr diesem Mann den Tod wünscht?“
„Gerade wegen seines Talents, alter Mann“, fauchte Chan. „Wie lautet die Nachricht?“
Meister Sen übersetzte.
90-weiß-Suanh-Haus-verboten-Grab-18-Mann-Straße-Sajang
Obwohl ihm die Anspannung jeden klaren Gedanken vernebelte, erkannte es auch Chan. Die Worte standen nicht in der korrekten Reihenfolge.
„Leider ermöglichen sie eine Anzahl sinnvoller Kombinationen“, sagte Meister Sen. „Mit sehr unterschiedlichen Aussagen.“
Jedoch erkannte der Weise, was Leonard auch dann entgangen wäre, hätten ihm alle drei Palmblätter zur Verfügung gestanden. Man musste die Quadrate übereinanderlegen, das erste zu unterst, dann das zweite und dritte. Verschob man die beiden oberen in einem bestimmten Winkel, erhielt man einen zwölfzackigen Stern. Auf diese Weise reihten sich die Zahlen, die nun die zwölf Ecken des Sterns zierten, in eine gerade Abfolge von 1 bis 12. Darin bestand ihr eigentlicher Zweck. Nur mit diesem Verfahren fügten sich die hervorgehobenen Hexagramme zur beabsichtigten Kombination. Somit erhielt Meister Sen die Reihe:
Haus-Mann-weiß-1890-Grab-Suanh Sajang-verbotene Straße
In Chan kämpfte die Erregung über die Entdeckung mit der Verärgerung darüber, dass auch diese Reihe noch keine Klarheit schaffte. Sein Berater beruhigte ihn.
„Es sagt viel mehr, als es scheint.“
Auch den Weisen ergriff das Fieber, das dieser rätselhaften Botschaft entströmte. Zunächst ging er auf die verbotenen Wege ein.
Dieses Phänomen traf man auch heute noch oft auf dem Land. Dschungelpfade, Bergpässe oder Feldwege belegte man mit einem Tabu, weil sich dort zu bestimmten Zeiten das Böse sammelte. Man durfte sie gar nicht oder nur unter gewissen Vorkehrungen betreten. Aber auch Straßen wurden zu einer jalan dilarang erklärt. Es betraf Orte, an denen Menschen auf unnatürliche Weise zu Schaden oder zu Tode gekommen waren. Die Leute glaubten, ihre blutrünstigen Seelen geisterten dort noch herum.
Meister Sen kam zum gleichen Schluss wie Runciman. Die gesuchte verbotene Straße würde sich nur in einem Viertel Singapurs finden: Kampong Glam. Denn die Botschaft war mit Absicht in malaiischer Sprache abgefasst.
„Die Grammatik des Malaiischen kennt weder Artikel noch Hilfsverben“, erläuterte er weiter. „Suanh ist ein weiblicher Vorname, Sajang demnach ihr Nachname.“
Ergänzte er nun die Zeile mit den fehlenden Worten, ergab sich:
Das Haus des weißen Mannes, im Jahre 1890 das Grab der Suanh Sajang, in der verbotenen Straße.
„Zu jener Zeit stand Singapur unter dem Protektorat der britischen Kolonialmacht. Die Ausländer lebten hier überwiegend in eigens für sie angelegten Wohngebieten. Nur wenige dürften ein Haus im alten Malaienviertel besessen haben. Der zweite Zusatz bedeutet, dass in diesem Haus eine Frau namens Suanh Sajang gestorben ist, im Jahre 1890. Es wird ein wenig Zeit kosten, es herauszufinden. Aber beides müsste in irgendwelchen Quellen erwähnt sein.“
„Dann eilt Euch, alter Mann“, drängte Chan. „Wir haben keine Zeit zu verlieren.“
Dort hatte es also die ganze Zeit gelegen, das Auge der Dunkelheit. In einem Haus, kaum zwei Kilometer von seiner Residenz entfernt. So kurz vor dem Ziel packte ihn ein Hochgefühl. Alle
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